Guido Crepax erotisiert die Hochkultur, Kazuo Umezu lässt Kinder morden, Crumb kann auch Kafka, und Minetaro Mochizuki zerlegt noch einmal die ganze Welt. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics der letzten Monate.
Robert Crumb, David Zane Mairowitz: Kafka
2024 jährt sich der Todestag Kafkas zum 100. Das wird auch nicht an den Comicverlagen spurlos vorbeigehen. Den Anfang macht Reprodukt mit einer günstigen Neuauflage von Robert Crumbs und David Zane Marowitz‘ Comicbiografie. Die erschien erstmals 1993 und darf ihrerseits mittlerweile als klassisch bezeichnet werden; von der heutigen Omnipräsenz der Sachcomics war man damals jedenfalls noch weit entfernt. In manchen Passagen ist es erstaunlich anzusehen, wie harmonisch Crumb seinen präzis-rüden Zeichenstil mit den grafischen Finessen eines George Grosz vereint. So tastet er sich mit großer visueller Sensibilität an Kafka heran, den uns Mairowitz unter drei Gesichtspunkten nahebringt: Kafkas Verhältnis zu seinem Vater, zur Sexualität und eigentlich allem Körperlichen sowie sein Ringen mit seiner jüdischen Identität, dies unter Berücksichtigung des historischen und kulturellen Kontexts, in Prag assimiliert in einem der ältesten Judenviertel Europas aufzuwachsen, von der steten Gefahr des in Terror umschlagenden Antisemitismus der Bevölkerung zur Selbstverdammung gedrängt.
Außerdem sind Crumbs Verdichtungen von Kafkas Werken – darunter „Die Verwandlung“, „Der Bau“, „In der Strafkolonie“, „Der Prozess“ und „Das Schloss“ – kleine Meisterstücke der Erzählökonomie.
Robert Crumb, David Zane Mairowitz: Kafka • Reprodukt, Berlin 2024 • 176 Seiten • Taschenbuch • € 9,90
Danijel Zezelj: Wie ein Hund
Ein weiterer Beitrag zum Kafka-Jahr. Der kroatische (nicht nur Comic-)Künstler Danijel Zezelj collagiert mehrere Kafka-Texte zu einem kontraststarken Bilderreigen, angeleitet vom „Hungerkünstler“, zusammengehalten von der schwarzweißen, zwischen Expressionismus und Realismus schwankenden Grafik, die Kafkas Oszillieren ins Stilistische überträgt. Und so wie Kafkas Figuren rückblickend an der Grausamkeit der Moderne zerbrechen, ist es hier die Gegenwart, die dem Protagonist die Luft zum Atmen nimmt. Ein Fest für die Augen, angesichts der Vorlage(n) vielleicht zu erwartbar entschlüsselungswillig.
Danijel Zezelj: Wie ein Hund • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 104 Seiten • Softcover • € 22,00
Guido Crepax: Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Nach „Dracula“ im Dezember folgt nun mit „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ beim Splitter Verlag der nächste Band der Werkausgabe mit Guido Crepax‘ Literaturadaptionen, in diesem Fall noch ergänzt um Kafkas „Prozess“, James‘ „Die Drehung der Schraube“ und Shelleys „Frankenstein“, also Werken, die dem Gebiet der Phantastik zugehörig sind. Der 2002 veröffentlichten Bearbeitung des Frankenstein-Stoffs kurz vor seinem Tod im Jahr 2003 ist Crepax‘ Multiple-Sklerose-Erkrankung deutlich am Strich anzusehen. Sie ist auch die einzige der vier, deren Erotisierung wenig aus den subtextuellen Überschüssen des Originals schöpfen kann. Jede Adaption wird mit einem Vorwort eingeleitet und erscheint in neuer Übersetzung.
Guido Crepax: Dr. Jekyll und Mr. Hyde • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 280 Seiten • Hardcover • € 55,00
Scott Snyder, Francesco Francavilla: Night of the Ghoul
Für Comixology hat US-Autor Scott Snyder eine Comic-Kollektion mit Werken, die größtenteils dem Phantastik-Bereich zuzuordnen sind, entwickelt, die bei Splitter seit einigen Monaten sukzessive auch gedruckt erscheinen. In „Night of the Ghoul“ setzt Snyder auf altmodischen Horror und nutzt die Erzählung als Hommage an die alten Filmklassiker der Universal- und RKO-Studios. Eine urban legend nach Hollywood-Maßgaben: Der Titel bezieht sich auf einen gleichnamigen verschollenen Film aus dem Jahr 1936, der seinem vergessenen Regisseur T. F. Merrit die Karriere kostete, nachdem die Premiere in einer Feuerkatastrophe endete. Ein obsessiver Studiomitarbeiter mit journalistischen Ambitionen macht sich in der Gegenwart daran, diese alte Geschichte erneut aufzurollen, überzeugt davon, dass es sich beim „Ghoul“ um ein Meisterwerk handelt, das auch den Kanon der Universal-Monster in den Schatten stellt. Bei seinen Recherchen macht er den greisen Regisseur in einem abgelegen kalifornischen Altersheim ausfindig. Dieser versucht den Aficiondao davon zu überzeugen, dass die Ghoul-Figur keineswegs fiktiv ist.
Für Zeichner Francesco Francavilla bietet dieser Plot das Fundament für eine klassische Retro-Horror-Ästhetik, die sich am Golden Age der US-Filmgeschichte abarbeitet.
Scott Snyder, Francesco Francavilla: Night of the Ghoul • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 176 Seiten • Hardcover • € 28,00
Lilian Pithan (Hrsg.): The Future is…
Diese Anthologie ist eine Eigenproduktion des Carlsen Verlags. Herausgegeben von Lilian Pithan, liefern 14 Comiczeichnerinnen ihre Zukunftsentwürfe und -visionen. Stilistisch reicht die Bandbreite vom klassisch seriellen Erzählprinzip des Comics bis zur freien Illustration, inhaltlich spielen, wen wundert’s ?, die Themenblöcke Technik und Klimawandel die größte Rolle. Maren Amini, Whitney Bursch, Bea Davies, Sheree Domingo, Katia Fouquet, Aisha Franz, Melanie Garanin, Peer Jongeling, Kathrin Klingner, Mia Oberländer, Elizabeth „Fungirl“ Pich, Marijpol, Maki Shimizu und Malwine Strauss sind mit Beiträgen vertreten. Und so rekurriert die Kurzgeschichtensammlung ihrer Form nach auf die erste Hochphase des Genres in den Pulp-Magazinen (auch wenn in nahezu jeder Story die Kunst der Unterhaltung die Leviten liest), verabschiedet sich von der seinerzeit omnipräsenten männlichen Perspektive und bietet sowohl etablierten als auch aufstrebenden Zeichnerinnen eine Bühne.
Lilian Pithan (Hrsg.): The Future is… 14 Comics über die Zukunft • Carlsen, Hamburg 2024 • 128 Seiten • Hardcover • € 25,00
Francois Schuiten, Benoit Peeters: Die Heimkehr des Kapitän Nemo
2019 sollte der „Blake und Mortimer“-Spezialband „Der letzte Pharao“ eigentlich Francois Schuitens Karriereende als Comiczeichner einläuten. Aber ein Nachklapp zum gemeinsam mit Benoit Peeters realisierten „Die Geheimnisvollen Städte“-Zyklus – der weiterhin zum Besten zählt, was der europäische Phantastik-Comic zu bieten hat – musste noch sein und wird nun, wie immer vorbildlich ediert, in Schreiber & Lesers „Städte“-Bibliothek integriert. Darin lassen Schuiten und Peeters Jules Vernes Kapitän Nemo wiederauferstehen und schicken ihn auf eine Sightseeing-Tour zu den zentralen Plätzen und Gebäuden ihrer futuristisch-entrückten Monumentalarchitektur. Das ist zwar allenfalls auf sechs Seiten ein Comic und ansonsten ein Konvolut von ganzseitigen Zeichnungen aus Schuitens Hand, macht aber das Bündnis von Schuitens und Peeters Mythologie mit Vernes fortschrittsoptimistischen Erzählwelten nicht weniger eindrücklich. Übrigens kann man dies auch ganz handfest außerhalb des Comic-Kosmos bewundern: Die Pariser Metro-Station Arts et Metiers wurde 1995 nach einem Entwurf Schuitens wie die Nautilus gestaltet – oder wie eine Haltestelle, die den „Geheimnisvollen Städten“ entsprungen sein mag; daüber streiten sich noch heute die Gelehrten.
Francois Schuiten, Benoit Peeters: Die Heimkehr des Kapitän Nemo • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 96 Seiten • Hardcover • € 26,80
Minetaro Mochizuki: Dragon Head Band 5
Minetaro Mochizukis Endzeit-Epos „Dragon Head“ aus den späten 90ern zählt auch heute noch zu den erfolgreichsten Serien des Mangaka – ein Bestseller in Japan, ein preisverwöhnter Kritiker*innenliebling noch dazu, 2003 schließlich Filmvorlage (die es leider nie nach Deutschland geschafft hat). Darin schickt Mochizuki im harten, realistischen Zeichenstil ein jugendliches Paar durch das Ende der Welt, das in einem eingestürzten U-Bahn-Tunnel seinen Anfang nimmt und sich später auf der Oberfläche als ein Hölleninferno erweist, dessen Ursachen nebulös bleiben, auch weil sich die wenigen Überlebenden in der Apokalypse lieber selbst massakrieren. Die düsteren Bilder erhalten nach Fukushima eine nochmals intensivere Dringlichkeit, ohnehin ist eine Re-Lektüre kaum mehr möglich, ohne dabei an den Klimawandel zu denken. Carlsen hat die seinerzeit zehn Bände umfassende Serie erneut als Perfect Edition herausgebracht, deren abschließender fünfter Band nun erschienen ist.
Minetaro Mochizuki: Dragon Head Band 5 • Carlsen Manga, Hamburg 2024 • 404 Seiten • Taschenbuch • € 20,00
Kazuo Umezu: Die linke Hand Gottes und die rechte Hand des Teufels Band 1 & 2
Der Manga-Veteran Kazuo Umezu muss dem deutschen Markt noch nähergebracht werden, und mit der zweibändigen Gesamtausgabe „Die linke Hand Gottes und die rechte Hand des Teufels“ hat Egmont Manga ein recht rüdes, bisweilen zynisches Horror-Epos ausgewählt. Die fünf Storys erschienen ursprünglich zwischen 1987 und 1988 im „Big Comic Spirits“-Magazin und drehen sich allesamt um den sechsjährigen Sou, der die Gabe besitzt, in seinen Träumen die nahe Zukunft vorherzusehen und darin auch einzugreifen. Das verbindet Umezu mit einer ausschweifenden Ästhetik des Drastischen, die vor rüdem Splatter nicht zurückschreckt. Und ebenso mit einer Romantisierung der Kindheit nichts am Hut hat. Da planen die Schulkinder durchaus (und sehr kreativ) einen Mord an ihrer Lehrerin, um herauszufinden, ob sterbende Menschen ihr wahres Gesicht zeigen, wie es eine urbane Legende behauptet.
Kazuo Umezu: Die linke Hand Gottes und die rechte Hand des Teufels Band 1 & 2 • Egmont Manga, Berlin 2024 • 656/640 Seiten • Hardcover • je € 30,00
Amy Chu, Soo Lee: Carmilla. Die erste Vampirin
Es ist sehr erfreulich, dass der US-Horror-Comic immer politischer wird und selbstverständlich Minoritäten das Handlungszepter überreicht, man denke nur an „Infidel“, „Bitter Root“ oder Marjorie Lius und Sana Takedas „Monstress“-Nachfolgeserie „The Night Eaters“. Dazu gehört auch Amy Chus und Soo Lees Mini-Serie „Carmilla. Die erste Vampirin“, in der die New Yorker Sozialarbeiterin Athena eine Mordserie an jungen Frauen aufzuklären versucht, deren Systematik von den Behörden ignoriert wird, weil es sich bei den Opfern um obdachlose queere Frauen handelt. Weil sie selbst asiatisch aussieht, führt dies immer wieder zu alltagsrassistischen Begegnungen, und auch der empathische Blick auf die Deklassierten, die vom Staat wie Menschenmüll behandelt werden, zeugt vom Gespür für die soziale Ungleichheit, die den urban horror wie ein Hintergrundrauschen begleitet. Nur die Verbindung zu Le Fanu wirkt ein wenig bemüht.
Amy Chu, Soo Lee: Carmilla. Die erste Vampirin • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 112 Seiten • Hardcover • € 22,00
Amazing Ameziane: Quentin Tarantino
Behutsam wird die lose Filmbibliothek des Splitter Verlags weiter ausgebaut. Zeichner und Autor Amazing Ameziane wählt für seine Comicbiografie eine Methode mit geringster Distanz: Quentin Tarantino selbst quatscht über sein Leben und Werk und hält dabei mit Eigenlob nicht hinterm Berg. Dieser Plauderton, der Tarantinos in Interviews und Büchern eloquent vorgetragene Filmbegeisterung nachzuahmen versucht, kann gelegentlich ermüdend sein, zumal nie ersichtlich ist, ob dem Schnack überhaupt Quellen zugrunde liegen. Beim visuellen Spiel mit den Formen des Erzählens greift der Rückgriff auf Tarantinos Pastiche-Lehre allerdings hervorragend, zumal auch hier die Freiheit zur Abschweifung Programm ist und sich viele Exkursionen in die Filmgeschichte von unten erlaubt werden, das reicht vom Blaxploitation-Film bis zur Roger-Corman-Schmiede, von den kreativen Anfängen des Pornofilms bis zur Grindhouse-Kinokultur.
Amazing Ameziane: Quentin Tarantino • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 240 Seiten • Hardcover • € 35,00
Richard Corben: Murky World
In Richard Corbens Welten pulsiert der Eros bzw. das, was man an diesen Orten einer völlig aus den Fugen geratenen Sozietät dafür hält. Nackte Männer, nackte Frauen, alle muskulös, besonders erstere in der Regel strunzdumm und schnell gewaltbereit. Das rief in den 80ern regelmäßig die Zensur auf den Plan, weil man Corbens satirische Zwischentöne ebenso wenig bemerkte wie seinen ironischen Blick auf die mit biblischem Ernst ausgewalzten archaischen Motive des Fantasy-Genres. Wie in seinem 1982er-Werk „Mutantenwelt“ mochte man sich durchaus ein Amerika der Reagonomics, die nicht mal kapieren, dass sie die Postapokalypse ereilt hat, vorstellen. Von dieser Schärfe ist in Corbens Spätwerk, so auch in „Murky World“, das erstmals auf Deutsch erscheint, wenig geblieben; auch seine komplexe Airbrush-Ästhetik musste da längst einem pragmatischeren Ansatz weichen. Seinen galligen Blick auf die Motive der Fantasy hatte sich Corben indes bewahrt und breitet in „Murky World“ seine ziellose Quest mit guter Laune aus, auf jeder zweiten Seite sitzt der Schalk im Nacken. Andere seiner zeitgenössischen Kollegen verkaufen ihre Debüts noch heute so selbstverliebt-andächtig, als hätten sie das Feuer entdeckt. Mit „Den“ startet zudem bei Splitter ein Klassiker aus Corbens Hochphase.
Richard Corben: Murky World • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 168 Seiten • Hardcover • € 39,80
Jean-Luc Masbou: Conan der Cimmerier: Der dunkle Fremde
Auf den ersten Blick mag es unpassend erscheinen, dass man den 14. Band der französischen Comic-Konzept-Reihe um Conan den Cimmerier Jean-Luc Masbou anvertraut, den man hauptsächlich mit den anthropomorphisierten Figuren seiner Seeräuber-Geschichte „Mit Mantel und Degen“ verbindet. Tatsächlich ist aber auch Robert E. Howards Kurzgeschichte im Kern eine Piraten-Story mit allerlei Intrigen-Nebenspuren und einem Schatz im Fokus, bei der Conan im ersten Drittel eine untergeordnete Rolle spielt. Darum fällt nicht ins Gewicht, dass Masbou menschliche Proportionen eher wie grobe Richtlinien handhabt: Der Plot ist derart character driven und bar der gewohnten dunklen Opulenz, dass er sich ohnehin mehr als üblich in den Dialogen abspielt – und wie man im gewohnten Nachwort des Howard-Experten Patrice Louinet erfährt, hat sich der Autor hierin ganz besonders autobiografisch ausgetobt, sodass sich „Der dunkle Fremde“ im Conan-Kosmos gar als Schlüsselwerk eignet. Dafür muss es nicht Überwältigungsästhetik sein. Dass keine Abnabelung vom Original stattfindet, von Kürzungen mal abgesehen, ist allenfalls ein Vorwurf, den sich die ganze Reihe gefallen lassen muss, vor allem dann, wenn die mutmaßliche Ehrfurcht bei manchen Versuchen in Nibelungentreue umschlägt.
Jean-Luc Masbou: Conan der Cimmerier: Der dunkle Fremde • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 64 Seiten • Hardcover • € 17,00
Jean-Yves Mitton: Das Phantom. Band 1
Ich weiß zwar nicht so recht, wie sich der derzeitige kleine Boom der alten „Phantom“-Comics erklären lässt, aber es macht Laune, mal für ein paar Schritte den Weg einer Helden-Figur abseits von DC und Marvel zu begleiten, die im Gegensatz zu ihren prominenten Kolleg*innen ihre Pulp-Herkunft nie so recht abgelegt hat. Bei Wick Comics erscheinen alte Bastei-Hefte als Nostalgie-Ausgaben, ein Kiosk-Magazin mit alten und neuen Storys wurde von Zauberstern lanciert (im mittlerweile zweistelligen Bereich), und überdies veröffentlicht Kult Comics eine Alben-Edition mit den schwarzweißen „Phantom“-Comics von Jean-Yves Mitton aus 1989/1990, ausgestattet mit einem Geleitwort Mittons und einem kundigen Vorwort. Unterhaltung der rustikalen Art, bei der es auch mal ausreicht, wenn ein Bösewicht von einer Herde Nilpferde zertrampelt wird.
Jean-Yves Mitton: Das Phantom. Band 1 • Kult Comics, Leipzig 2023 • 148 Seiten • Softcover • € 25,00
Geof Darrow, Frank Miller: Hard Boiled
Bevor Frank Miller zum reaktionären Spinner konvertierte, hat er ein paar bemerkenswerte Werke geschaffen. „Hard Boiled“ – bei Cross Cult im vergrößerten Format als dritte Neuauflage erschienen – von 1992 erzählt von einer technoiden Apokalypse, in der die Menschheit ihren eigenen Ausnahmezustand verschlafen hat. Geof Darrow zeichnet fantastische Wimmelbilder der Gewalt, durch die der Steuereintreiber Nixon torkelt, auf der Suche nach seiner Identität, weil er herausgefunden hat, dass er ein Cyborg ist. Aber statt der Gewalt, die er ausübt, schockiert vielmehr die Reaktion darauf. Millers Szenario beschreibt einen zukünftigen Moloch der völlig ad absurdum getriebenen Dekadenz, eine semiotisch gänzlich entleerte Welt, in der es gleichzeitig von Zeichen nur so wimmelt. AKW-Buttons, Peace-Logos, Hakenkreuze, Markennamen zieren die Kleidung der stoischen Menschen der überfüllten Großstadt, die phlegmatisch, fast bereitwillig als Kanonenfutter herhalten, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig in futuristischen Live-Sex-Shows mit Kettensägen tranchieren. Nichts ist hier mehr von Bedeutung, schon gar nicht ein Menschenleben, und Darrow flankiert diese Leere mit einem Mix der Stile, der die Funktionslosigkeit der Zeichen ins Ästhetische überträgt.
Geof Darrow, Frank Miller: Hard Boiled • Cross Cult, Ludwigsburg 2024 • 128 Seiten • Hardcover • € 30,00
Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de
Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film und Literatur, ist Herausgeber und Chefredakteur der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, ND, Taz, Jungle World, Titanic, diezukunft.de, Testcard, kino-zeit.de, Das Viertel und vielen dahingeschiedenen Magazinen. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.
Abb. oben aus Scott Snyders „Night of the Ghoul“ (Splitter Verlag)