Nach fast zwanzig Jahren kehrte mit Chris Scheuer im vergangenen Jahr ein Veteran der deutsch-österreichischen Comicszene zurück in die Comicläden. Im September 2019 ist der erste Band von „Reiche Ernte“ bei Panini erschienen, in diesem März folgte der zweite Band – bei der auf drei Bände angelegten Serie handelt es sich eine Koproduktion zwischen Romanautor Matthias Bauer und Comicikone Chris Scheuer – für den einen ein Debüt, für den anderen ein Comeback.
Die Comics beruhen auf der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung von Matthias Bauer, und der zweite Band, der Ende März 2020 bei Panini erschien, versammelt drei Geschichten hieraus: „Apokalypse“ (S. 4-33), „Halluzinationen“ (S. 34-51) und „Wie jeden Tag“ (S. 52-61).
In „Halluzinationen“, der einzigen kolorierten Geschichte, geht es um einen Auftragsmörder, der neben seinem Familienleben (Monopoly und Kaminfeuer) seine mörderische Arbeit zu verrichten versucht. Diesmal aber ist ihm, während er mit einem Gewehr hinter einem Stapel zugeschneiter Baumstämme kauert, eine Falle gestellt worden: Ein Auftragskiller-Kollege fügt ihm einen Bauchschuss zu: sicherlich schmerzlich, wahrscheinlich tödlich. Welche der darauffolgenden Ereignisse als Halluzinationen eines Schwerverwundeten zu interpretieren sind, bleibt dem Leser bzw. der Leserin überlassen.Die Schlusspointe ist das wesentliche Element sämtlicher Storys der „Reichen Ermte“, die sich mit „Horror“ nur in einem weiteren Sinne gut beschreiben lassen. Es sind eher fantastische Geschichten – in dem Sinne, dass die Unbestimmtheit im Fokus steht: Ist dies und jenes wirklich geschehen oder nur eine Einbildung, Lüge oder Täuschung? So fragt der Protagonist am Ende von „Halluzinationen“ auch: „Oder ist das Leben eine Halluzination?“ In diesem Fall liegt die Antwort scheinbar auf der Hand, zumal weder die literarische Vorlage noch der Comic es nahelegen, die familiäre Vorgeschichte des Killers infrage zu stellen und als Halluzination zu verstehen. Überhaupt ist diese Pointe in der Kurzgeschichte gar nicht angelegt. Eine andere Unstimmigkeit aber finden wir in der Vorlage wie auch in der Comic-Adaption: Warum eigentlich verschanzt der Auftragsmörder sich mit einem Scharfschützengewehr 500 Meter von dem Haus entfernt, wenn sein Plan doch darin besteht, das Opfer im Haus aufzusuchen, wie er munter dahinplaudert? Nun ja.
Als Höhepunkt der Sammlung, darin sind Bauer und Scheuer sich einem Interview zufolge einig, verstehen die Künstler die umfangreiche „Apokalypse“, in der ein jüdischer Wissenschaftler, dessen Eltern von den Nationalsozialisten ermordet wurden, eine Zeitmaschine erfindet. Kern der Story ist das Was-wenn-Gedankenspiel für alternative Geschichtsverläufe: Wie müsste man den Verlauf der Geschichte ändern, um den Holocaust zu verhindern. Dass der Wissenschaftler die falsche Person ins Vertrauen zieht, merken Leser*in und Wissenschaftler viel zu spät, auch deshalb, weil wir die Ereignisse aus der Perspektive einer Person beobachten. Hier wie in jeder der Geschichten ist der abschließende Twist das Entscheidende, und die Zeichnungen halten den Leser bzw. die Leserin bisweilen im Unklaren, in welcher Zeit die Handlung eigentlich spielt. Die breiten, expressiven Striche von Scheuer, längst nicht so detailreich wie etwa in manchen seiner früheren Comics wie „Sir Balantime“, sind schön anzusehen, sie wiegen aber die etwas träge Handlung nicht auf.
In dem ersten Band haben insbesondere Highlights wie „Das Modell“ dafür gesorgt, dass der Auftakt sehr gut gelang. In den schwarz-weißen Zeichnungen von Scheuer erkennt man das Talent der 1980er Jahre wieder, wenngleich sein Stil sich im Laufe der Jahre auch verändert hat. Die fünf Geschichten des ersten Bandes, der im September 2019 erschienen ist, leisteten damit ein starkes Versprechen für die beiden Nachfolger. Die drei Geschichten des vorliegenden Bandes können dies nicht ganz einlösen.
Teile dieses Textes sind zusammen mit einem Interview mit Chris Scheuer und Matthias Bauer in der Comixene #134 veröffentlicht worden.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.