Mythos und Person – „Isadora“

Isadora Duncan wurde 1877 in San Francisco in einfachen Verhältnissen geboren. Als sie im Jahr 1927 spektakulär ums Leben kam, hatte sie den modernen Tanz verändert. Julie Birmant und Clément Oubrerie haben der Ausdruckstänzerin eine Comic-Biografie gewidmet.

Die Geschichte springt von den Jahren um 1900 immer wieder in die letzten Lebensjahre der Tänzerin 1922 bis 1927, vom Fin de Siècle straight in die Roaring Twenties. 1899 wandert die amerikanische Familie, die schon einige Schicksalsschläge hinter sich hat, nach Europa aus, und Isadora zieht es bald weiter nach Paris, wo die extravagante Tänzerin rasch Zutritt zu hohen Künstlerkreisen erhält. Sie lernt etwa den französischen Bildhauer Auguste Rodin kennen und wünscht sich im Nachhinein, sie wäre nicht so prüde gewesen.

Clément Oubrerie (Zeichner), Julie Birmant (Autorin): „Isadora“.
Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Reprodukt, Berlin 2020. 140 Seiten. 24 Euro

Mit ihrem Talent, zu klassischer Musik wie Chopin, Brahms oder Beethoven frei zu improvisieren, beeindruckt sie neben vielen Liebhabern auch die amerikanische Tänzerin Loïe Fuller, die Duncan Auftritte im Rahmen ihres Ensembles sowie ihren ersten Solo-Abend ermöglicht. Sie gründet eine eigene Tanzschule in Berlin-Grünewald, tourt durch Europa und die USA. Ihren Performances haftet stets auch etwas Skandalöses an: Als Hommage an die von ihr verehrte griechische Antike tritt die Avantgarde-Künstlerin, die vom klassischen Ballett wenig hält, in einer schlichten Tunika auf und gerät derart leicht bekleidet zum Blickfang für ein hochkulturell sozialisiertes Publikum ebenso wie für sensationslüsterne Zuschauer.

1922 heiratet sie den russischen Avantgarde-Schriftsteller Sergei Jessenin – ein seltsames Paar weniger durch den Altersunterschied (sie 45, er 26), sondern vielmehr durch ihren Gleichklang in ihrem Gespür für resonanzstarke Skandale. Die Beziehung, der Carola Stern 1998 ein eigenes Buch widmete („Isadora Duncan und Sergej Jessenin. Der Dichter und die Tänzerin“), ist geprägt von seinen Alkoholexzessen und ihrem gemeinsamen Hobby „Hotelzimmer demolieren“. Irgendwann ist es vorbei, Jessenin erhängt sich 1925 in einem Leningrader Hotelzimmer, und damit schließt sich der Rahmen, den Birmant und Oubrerie mit der Eingangsszene eröffnen, in der sie das amerikanisch-russische Liebespaar einführen.

Isadora hat ihren künstlerischen Zenit zu diesem Zeitpunkt längst erreicht, den letzten Jahren widmen Birmant und Oubrerie nur wenige Seiten in einem abschließenden Epilog: Isadora lässt sich in Nizza von einem jungen Mann (oder dessen Sportwagen) begeistern, steigt für eine Spritztour ein und kommt ums Leben, als sich ihr Seidenschal im Hinterrad verfängt und sie stranguliert: „Wenn man rast, tut’s nicht mehr weh“, hatte Birmant ihr zuvor in den Mund gelegt, und diese Worte entfalten nun eine tragische Doppeldeutigkeit.

Das Leben der Ausdruckstänzerin ist in mehreren Biografien, etwa von Amelia Gray und Jochen Schmidt, außerdem in diversen Filmdokumentationen dargestellt worden, ihre eigene Sicht auf ihr Leben hat sie in ihrer Autobiografie „My Life“ formuliert. Wohldokumentiert, könnte man sagen. Und doch, so schreibt die Biografin Ann Daly in „Done into Dance“, lassen die Lebensbeschreibungen viele Fragen offen. Das ist sicherlich auch darin begründet, dass Isadora Leben und Kunst selbst zu mythisieren versuchte, nicht nur durch ihre Leidenschaft zur griechischen Antike, sondern auch durch ihre Ablehnung gegenüber Filmaufnahmen, sodass heute vor allem Fotos ihrer Auftritte überliefert sind. Vieles bleibt im Dunklen oder der Selbststilisierung überlassen.

Seite aus „Isadora“ (Reprodukt)

Warum Isadora ein so aufwändiges Porträt verdient, kann diese Comic-Biografie leider nicht erklären: Weder als politische Avantgarde-Künstlerin, als Autorin theoretischer Schriften, als unglückliche Mutter dreier Kinder, die allesamt früh ums Leben kamen, noch als Frau, die um Emanzipation ringt und sich zugleich in immer wechselnde Abhängigkeiten begibt, wird Isadora hier sichtbar, ganz im Gegensatz zu anderen Biografien. Dieses widerspruchsvolle Leben zwischen Avantgarde und Kulturindustrie, zwischen E und U, nicht zuletzt zwischen den USA und Russland gerät Julie Birmant und Clément Oubrerie zu einer flachen Darstellung einiger biografischer Momente, die sich zu keinem Gesamtbild formen lassen. Weder ihr Tanz selbst spielt eine große Rolle noch ihre Reflexionen über das Tanzen, wie sie sie in dem Vortrag „Die Zukunft des Tanzes“ dargelegt hat. Stattdessen Yellow-Press-Material. Von Rodin hätte sie sich gern entjungfern lassen, Maxim Gorki hat sie nicht gemocht: „Es scheint, er mag meine Frisur nicht.“ Die Isadora dieses 2017 bei Dargaud erstveröffentlichten Comics ist kaum mehr als ein blasses It-Girl des frühen 20. Jahrhunderts, das weniger durch sich selbst besticht als durch die Liste der Männer, denen sie begegnet.

Auch der Personenkult ihrer Schülerinnen bleibt unerwähnt. Die „Isadorables“ übernahmen von ihrer unkonventionellen Lehrerin nicht nur die Bewegungsabläufe, sondern auch deren Nachnamen. Anfang der 1920er Jahre emanzipierten die Schülerinnen sich von ihrem Vorbild und gingen eigene Wege.

Während Julie Birmant (wie in „Pablo“, Reprodukt 2019) das Leben der Porträtierten nicht in eine konsistente Erzählung zu verwandeln vermag, gelingt es Clément Oubrerie nicht, die Dynamik des Tanzens in entsprechende Bilder zu bannen. So ansehnlich die stimmungsvoll kolorierten Zeichnungen auch sind, werden die Tanzszenen stark in den Hintergrund gedrängt.

Übrigens: Lange Jahre hielt sich der Mythos, Isadora sei in einem Bugatti gestorben, und dies wurde durch die Verfilmung „Isadora“ (1968) mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle bestärkt. Birmant und Oubrerie knüpfen nahtlos an diese Ikonografie an, wenn sie am Ende einen roten Sportwagen zeigen, in dessen Hinterrad der Seidenschal der Tänzerin sich verfängt und sie zu Tode stranguliert. Dabei gilt die „Bugatti-Legende“ längst als widerlegt: Es handelte sich wohl, weitaus weniger glamorös, um einen blauen Amilcar CGSS. Den Mythos stört diese Richtigstellung nicht, und Isadora, die zeit ihres Lebens an ihrem Mythos arbeitete, wäre es bestimmt recht.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Isadora“ (Reprodukt)