Was hat Physik mit Superhelden zu tun? Was hat sie mit jenen quietschbunten Figuren zu schaffen, die seit den dreißiger Jahren den Mut aufbringen, ihre Unterwäsche über der Kleidung zu tragen, behende über Wolkenkratzer hüpfen, mit einem Hammer in der Hand zum Mond sausen oder dank eines kovalent atomgebundenen Metalls namens Adamantium ultrascharfe Klauen besitzen?
Die Antwort liegt möglicherweise auf der Hand. Superhelden-Comics, wie sie die beiden bekanntesten US-amerikanischen Comicverlage Marvel und DC in den vergangenen 70 Jahren in Millionenauflage veröffentlicht haben, gehören meistens in den Bereich naturwissenschaftlich geerdeter Science Fiction – der Rest ist Fantasy, also wissenschaftlicher Vollhumbug, und darf guten Gewissens beschwiegen werden. Was James Kakalios, Autor des unterhaltsamen Buches „Physik der Superhelden“, auch tut.
Bewaffnet mit einer Extraportion hemdsärmelig-jovialem Naturwissenschaftlerhumor unterzieht Kakalios für physikalische Betrachtungen in Frage kommende Eigenschaften von Superhelden einer mehr oder weniger strengen Prüfung. Er fragt nach der Elastizität von Spider-Mans Spinnenfaden, untersucht die physikalischen Plausibilitäten des heldenhaften Prozesses der Schrumpfung auf Ameisen- oder gar Atomgröße, bezieht Stellung zu Storms Fähigkeit der Wettermanipulation.
Das Rüstzeug dazu hat er. Er ist Professor für Physik und Astronomie an der Universität von Minnesota und außerdem ein großer Fan der Superhelden-Comicliteratur. Ja, (naturwissenschaftlich-mathematische) Hellgeistigkeit und die Liebe zu einem Genre, das sich bis auf wenige Ausnahmen in arg ausgestanzten Klischeebahnen und entlang ewig gleicher Erwartungshorizonte bewegt, passen durchaus zusammen.Kakalios meint auch zu wissen, warum das so ist. Er betrachtet Physiker und Comicleser als gleichermaßen geneigt, Probleme zu lösen. „In beiden Fällen ist man (der Wissenschaftler ebenso wie der Comicleser) mit einem Satz Regeln konfrontiert, die auf neuartige und verzwickte Situationen angewandt werden müssen.“ So hantiert etwa ein Physiker mit der komplizierten Schrödinger-Gleichung; seine Aufgabe ist es, eine Vakuumröhre durch ein Halbleiterbauelement zu ersetzen. Der Superheld wiederum ist immun gegen elektromagnetische Induktion; unter Ausnutzung dieser Fähigkeit gilt es, „einen Schurken zu fangen, der mit einer Eiskanone jede Fläche augenblicklich vereisen kann, die Beute unversehrt sicherzustellen und zu verhindern, dass Passanten zu Schaden kommen“.
Nun ist es wohl so, dass Kakalios weitaus mehr „attraktive“ physikalische Problemstellungen in den Superhelden-Comics zu entdecken vermag als ein nach profaner Action suchender Jugendlicher mit Note Sechs in Physik in seinen dunkelsten Alpträumen. Andererseits kann die Physik auch dem hartnäckigsten Laien zu Interesse verhelfen, sofern er sich vorurteilsfrei darauf einlässt.
„Physik der Superhelden“ macht sich alle Mühe, ihm dabei zu helfen. Denn im Grunde hat Kakalios gar kein Buch über Comics und Helden geschrieben; er hat dem Leser unter Zuhilfenahme bunter Geschichten einen Einführungskurs in Physik untergejubelt. Was ihn glücklicherweise nicht davon abgehalten hat, en passant eine kurze Geschichte der Superhelden-Comics mitzuliefern, spitzfindige Kontroversen zwischen Comicfans zu verfolgen oder auf signifikante Unterschiede zwischen den DC-Figuren und jenen aus dem Hause Marvel zu verweisen.
Während DC-Superhelden wie Green Lantern oder The Flash die Welt mit fröhlich zu nennender Naivität von Superschurken befreiten, hadern Marvel-Figuren wie Spider-Man oder der Silver Surfer zumeist mit ihren Schicksalen. Selbstverständlich ist Kakalios Marvel-Fan, was ihn sympathisch macht, so wie die Zweifel am eigenen Tun und Dasein die Marvel-Helden eben menschlicher machten.
Kakalios, der in Minnesota seit einigen Jahren einen gut besuchten Kurs mit dem schönen Namen „Alles, was ich über Naturwissenschaften weiß, habe ich aus den Comics gelernt“ unterrichtet, hat das Buch in drei große schulphysikalische Bereiche eingeteilt: Mechanik (Kräfte, Bewegung, Gravitation, Reibung, Widerstand, Schall etc.), Energie (Energieerhaltung, Thermodynamik, elektrische Ströme, Magnetismus etc.) und Moderne Physik (Atomphysik, Quantenmechanik, Tunnelphänomene, Festkörperphysik). Dabei ist es ihm hoch anzurechnen, dass er den mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ungewappneten Leser mit physikalisch-mathematischen Formalismen fast ganz in Ruhe lässt.
Ein paar Formeln müssen allerdings sein, so zum Beispiel die berühmte, auf Newton zurückgehende F = ma (Kraft = Masse × Beschleunigung). Kakalios benötigt sie, um zu zeigen, dass Superman, um auf einem 200 Meter hohen Hochhaus zu landen, zuvor mit einer Geschwindigkeit von 230 km/h vom Boden abgesprungen sein muss. Der Physikprofessor rechnet weiter und kommt zu folgendem Ergebnis: Die Gravitation auf Supermans Heimatplaneten Krypton ist 15 mal stärker als auf der Erde, was wiederum bedeutet, dass die Beinmuskulatur des Helden für Erdverhältnisse extrem gut ausgebildet ist, weshalb er hier so hoch springen kann. Richtig gelesen: springen, nicht fliegen. Der Autor bezieht sich bei seiner Mechanikaufgabe auf einen Superman aus dem Jahr 1939. Damals hatte der „Stählerne“ noch nicht die Riesenpalette teilweise physikalisch abstruser Superkräfte.
Auch Spider-Mans seidener Faden hält einiges aus und ist prinzipiell elastisch genug, um zu Boden stürzende Schurkenopfer vor dem sicheren Tod zu retten. Der schnelle Flash kann tatsächlich Geschosse mit bloßer Hand fangen, sofern er sich mit circa 1500 km/h in Kugelgeschwindigkeit bewegt. Storms Fähigkeit, Wetter zu machen, scheint leichter zu beherrschen als die, das Wetter vorherzusagen. Er sei, meint Kakalios, einfach in der Lage, „nach Belieben Veränderungen der atmosphärischen Temperaturunterschiede vorzunehmen“. Aus der Physikerperspektive ist die Wetterherstellung offensichtlich ein recht primitives Phänomen. Selbst die Annahme von Parallelwelten mit zwei oder zehn Superhelden ist aus der Sicht der Quantenphysik kein großes Problem. Die Vergangenheit nachträglich zu verändern – das geht allerdings nicht.
Erfahrungsgemäß, das zeigt die Lektüre des Buches auch, ist die Schmerzgrenze von korrekter Darstellung zu physikalischem Humbug schnell überschritten. Die Welt der Superhelden steckt voller physikalischer Totalausfälle; und nicht nur Kakalios, auch der eingefleischten Comicleserschaft bereitet es eine gewisse Freude, Zeichner und Autoren auf entsprechende Fehler hinzuweisen. Flash kann – das wissen wir seit Einstein – nun einmal nicht so schnell rennen wie das Licht; Superman wird niemals in der Lage sein, zwei Wolkenkratzer auf Händen zu balancieren, schon deshalb nicht, weil sie sofort in sich zusammenstürzen würden.
Und was ist mit den ganz Kleinen – mit Ant-Man und Atom? Unmögliche Figuren, sagt Kakalios. Weil Materie aus Atomen besteht „und die Größe eines Atoms als fundamentaler Maßstab nicht beliebig variiert werden kann“. Und wenn doch? Dann hätten die beiden immer noch ein größenabhängiges Frequenzproblem: Sie wären taub und stumm. Zu ärgerlich.
Diese Kritik erschien zuerst in: Jungle World 49/2006
Michael Saager ist Publizist und Redakteur. Zahlreiche kulturjournalistische Texte u. a. in KONKRET, Jungle World, Taz, ND, Fluter, WOZ und Intro.