„Ich mag es, am Ende des Tages eine Seite zu haben, die mich selbst überrascht“

Der belgische Autor und Zeichner Ken Broeders (1970) ist seit fast dreißig Jahren in der Comic-Welt aktiv. Nach seinem Grafikdesign-Studium an der St. Lucas Hochschule in Antwerpen debütierte er im Jahr 1993 mit dem Comic „Tyndall“. Einige Jahre später erschienen die Fantasy-Serie „Jenseits des Steins“ und die siebenteilige historische Serie „Apostata“, die vom letzten heidnischen Kaiser im Römischen Reich handelt. Ken Broeders jüngstes Werk, die Trilogie „Drift Welt“, erscheint in deutscher Sprache beim Splitter Verlag. Der zweite Band wurde im März 2021 veröffentlicht. Die Geschichte spielt – wie der Titel schon sagt – in einer driftenden Welt, einem High-Fantasy-Universum, in dem Trolle, Elfen, Zauberer und Menschen zusammenleben und sich gegenseitig nach dem Leben trachten. Jedoch verbindet sie ein gemeinsamer Feind: eine uralte Spinne mit grenzenlosen magischen Kräften.

Eva von Stockhausen sprach mit Ken Broeders über „Drift Welt“, seine Arbeit und die Inspirationsquellen hinter der Geschichte – auch über seine unkonventionelle Art Geschichten zu schreiben, über verpasste Gelegenheiten in der Comic-Welt und über Humor als Gegenstück zu Dunkelheit und Blutvergießen.

Wie würden Sie Ihr bisheriges Comic-Oeuvre beschreiben?

Ein Comic-Oeuvre? Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ihre Frage suggeriert, Comiczeichner hätten ihr Gesamtwerk selbst in der Hand. Dies ist oft so nicht der Fall. Letztendlich hängt alles davon ab, ob man einen Verlag findet oder nicht. Was sich allerdings klar zeigt ist, dass ich meine Inspiration hauptsächlich in der Kombination aus historischer Geschichte und Fantasy finde. „Drift Welt“ ist die ideale Verschmelzung von beidem.

Heißt das, Sie haben ein nach Veröffentlichung harrendes Schattenwerk von Geschichten, für das Sie keinen Verlag gefunden haben?

Ich denke, Sie werden nur wenige Comiczeichner finden, die keine Schublade mit Projekten haben, für die sie keinen Verlag gefunden haben. Wir halten sie auch alle voreinander geheim, haha! Diese Projekte entwickeln sich in meinem Kopf ständig weiter, ich passe sie an und lasse mich neu inspirieren. Manchmal muss auch einfach das Timing stimmen. So lehnt ein Verlag ein solches Projekt mitunter zu Recht ab. Ich musste mir aber auch schon anhören, dass dem Projekt ein attraktives Mädchen fehlt. Eines, dass die ganze Zeit nackt herumläuft. Das ist natürlich frustrierend.

Neuen Comic-Projekten werden von Verlagen oftmals keine Chancen eingeräumt, während dieselben Verlage talentierte Comic-Künstler einsetzen, um alte Klassiker wiederzukäuen. Das geht so weit, dass bestehende Alben neu gezeichnet werden. Nicht gerade inspirierend, diesen Verlagen neue Geschichten zu präsentieren. Sowohl im handwerklichen Bereich der Comic-Macher als auch im Verlagswesen zeichnet sich derzeit eine gewisse Aushöhlung ab. Ich sage das nicht als nostalgischer alter Bock, der denkt, dass früher alles besser war. Ich sage dies als aktiver Zeichner, der bemerkt, wie viele verpasste Chancen liegen bleiben.

Ken Broeders: „Drift Welt“. Bislang zwei Bände.
Aus dem Niederländischen von Axel Rothkamm. Splitter Verlag, Bielefeld 2020/2021. Je 72 Seiten. Je 18 Euro

Wie lange haben Sie an „Drift Welt 2“ gearbeitet?

Die Geschichte auszuarbeiten, sie mit Bleistift auf Papier zu bringen, auszumalen, zu scannen und zu beschriften dauerte ungefähr ein Jahr.

Wie sind Sie auf die Idee zu „Drift Welt“ gekommen?

Die kleinen Skizzen von Märchenwesen, die während der Arbeit an „Apostata“ entstanden, begannen ein Eigenleben anzunehmen. Ich begann mich zu fragen, wer sie waren, zu welchen Völkern sie gehörten und wo ihr Zuhause liegt. Es war mir wichtig, dass sie irgendwie mit unserer Welt in Verbindung treten können.

Ich versuche immer die ganze Geschichte vollständig in meinem Kopf auszuarbeiten, bis ich sie wie einen laufenden Film vor mir sehe. Diesen zeichne ich dann mit Bleistift auf, während ich die Charaktere ständig sprechen, schreien und auf Ereignisse reagieren höre. Oft wirkt sich dies auf die Handlung aus, sodass es sich letztendlich um einen Prozess ständiger Änderungen und Anpassungen handelt. Ich schätze, dass ungefähr ein Drittel von dem, was ich mir ausgedacht habe und was die Charaktere dabei bewirken, letztendlich auf Papier landet. Diese Bleistiftversion erhält einen vorläufigen Text und die Geschichte kann am Stück gelesen werden. Danach beginne ich mit dem Kolorieren, währenddessen sich eigendynamisch Dinge wieder ändern können (neue Hintergrundcharaktere, Gebäude, Wetterbedingungen usw.). Dadurch bleibt es für mich als Macher erfrischend und überraschend. Ab einem gewissen Punkt scheint sich die Geschichte von selbst zu erzählen, die Dinge fügen sich ineinander und schaffen ihre eigene Logik. Es ist ein eigentümlicher Prozess und gibt „Drift Welt“ ihren etwas seltsamen Charakter. Einige Leser scheinen dies zu spüren und tauchen voll und ganz ein. Sie lassen sich mitreißen, wie ich mich während des Zeichnens mitreißen ließ. Andere Leser fühlen sich ein bisschen verloren oder vor den Kopf gestoßen.

Seite aus „Drift Welt Bd. 2“ (Splitter Verlag)

Welche Vor- und Nachteile hat diese Methode? Bleiben Sie jemals in einer Geschichte stecken?

Nein, steckenbleiben nicht. Die Schwierigkeit liegt in der Auswahl. Man kommt an einen Punkt, an dem die Geschichte anfängt ihr eigenes Leben zu führen. Abhängig von den Entscheidungen, die man dann trifft, entstehen neue Handlungsstränge oder die Rollen bestimmter Charaktere weiten sich aus. Gleichzeitig muss es zu dem Ende führen, welches ich bereits festgelegt habe. Die Wahl zwischen all diesen Lösungen kann einem manchmal Kopfschmerzen bereiten. Und es tut einem sofort leid um das, was man zurücklassen muss. Aber mit solch einer organisch wachsenden Geschichte zu arbeiten und eine Welt aufzubauen, macht eben auch großen Spaß.

Im Comicmachen liegt meine Leidenschaft – das Ausdenken und Bebildern von Geschichten. Mir ist auch klar, dass ich meine Leser manchmal sehr herausfordere. Aber warum sollte ich das nicht tun?

Welche Rolle spielte Ihr Interesse an historischen Hintergründen bei der Erschaffung von „Drift Welt“?

Eine ziemlich große. Ich beschäftige mich intensiv mit der napoleonischen Zeit, in der ich mich gut auskenne. So konnte ich sie in den kreativen Prozess von „Drift Welt“ einfließen lassen. Sie gab mir zum Beispiel einen Bezugsrahmen für die Kleidung, auf den ich zugreifen konnte.

Lesen Sie selbst gerne Fantasy?

Ehrlich gesagt lese ich nicht mehr so viel davon. Im Moment lerne ich den Erdsee-Zyklus von Ursula LeGuin kennen, ein Klassiker, den ich gerade erst entdeckt habe. Und ich bin ein großer Fan der Osten Ard-Serie von Tad Williams. Er hat nicht nur mich inspiriert, sondern ganz gewiss auch George R. R. Martin. In „Drift Welt 2“ konnte ich nicht widerstehen, ein Zitat von Williams zu veröffentlichen, das die Entstehung von „Drift Welt“ perfekt wiedergibt:

“He who is certain he knows the
ending of things when he is only
beginning them is either extremely wise or
extremely foolish; no matter which is
true, he is certainly an unhappy man, for
he has put a knife in the heart of wonder.”

Seite aus „Drift Welt Bd. 2“ (Splitter Verlag)

Wie sieht ein durchschnittlicher Arbeitstag von Ihnen aus?

Wenn ich mich in einem Projekt wie „Apostata“ oder „Drift Welt“ festbeiße, dominiert es mehr oder weniger mein Leben. Ich gehe damit schlafen und wache damit auf. Der Lockdown hat mich diesbezüglich nicht beeinflusst. Mein Tag beginnt mit den Nachrichten im Internet und danach fange ich an zu recherchieren. Ein Teil meines Gehirns ist ständig mit der in Arbeit befindlichen Seite und Zeichnungen beschäftigt. Setze ich mich ans Zeichenbrett, weiß ich normalerweise schon, wie ich etwas darstellen möchte. Kolorieren ist hingegen ein Prozess, dem ich mich offen hingebe, anstatt ihn zu kontrollieren. Klingt seltsam, ich weiß, aber ich kann es nicht anders beschreiben. Ich mag es, am Ende des Tages eine Seite zu haben, die mich selbst überrascht.

Wie sind Sie bei der Erschaffung von „Drift Welt“ zeichentechnisch vorgegangen?

Zuerst zeichne ich die Bleistiftversion der ganzen Geschichte. Diese Bleistiftseiten werden dann direkt koloriert. Ich arbeite hauptsächlich mit einer Kombination aus Acryl und Gouache. Diese verwende ich manchmal sehr verdünnt (fast wie Aquarell) und dann wieder sehr intensiv deckend. Ich genieße die Handwerkskunst dieser Arbeit sehr – Bleistifte spitzen, den Geruch der Farbe, sich um die Pinsel kümmern. Und natürlich das Malen an sich – das Auftragen von Farbschichten und das Wissen darum, dass es auch immer schiefgehen kann. Ich arbeite sehr zügig, schon fast hastig und schnell, dennoch sehr konzentriert. Ich verändere während des Malens oft noch einige Körperhaltungen, Hintergründe oder Belichtungen in der Szenerie.

Sie arbeiten mit vielen verschiedenen Perspektiven und Rahmen in immer neuen Kombinationen. Dadurch sieht jede Seite einzigartig aus. Wie schaffen Sie es, jede Seite so abwechslungsreich zu gestalten?

Wenn ich mich an meinen Zeichentisch setze und mir die Bleistiftzeichnungen ansehe, die mitunter Monate im Voraus entstanden sind, bin ich sehr kritisch. Gelegentlich stelle ich fest, dass ich sie durch kleine Anpassungen noch verbessern kann. Diese Veränderungen geraten dann außer Kontrolle und können durchaus dazu führen, dass völlig neue Seiten entstehen…

Seite aus „Drift Welt Bd. 2“ (Splitter Verlag)

Die deutsche Ausgabe von „Drift Welt“ enthält einen umfangreichen Anhang mit Skizzen und detaillierten Zeichnungen von Protagonisten und Nebenfiguren aus der Geschichte sowie von magischen Völkern und Orten, und alles mit einer Erklärung.

Die Zusammenstellung eines solchen Anhangs hängt in meinem Fall vom vorhandenen Material ab. Es ist nicht so, als hätte ich eine Schublade voller Skizzen. Wenn das Buch fertig ist, werden alle zusätzlichen Skizzen und Zeichnungen zusammengesucht. Darunter befinden sich manchmal größere Illustration, die ich zum puren Vergnügen gemacht habe. Dazu werden dann kurze Textpassagen hinzugefügt.

In „Drift Welt“ scheint Humor ein willkommenes Gegenmittel für ernstere Angelegenheiten wie allgegenwärtige Kriegslust und Blutdurst zu sein. Haben Sie diese Elemente in der Geschichte bewusst kombiniert?

Bei einem Charakter wie Dellric ist es fast unumgänglich, dass sich Humor in die Geschichte einschleicht. Selbst wenn er es endlich schafft, die Klappe zu halten, ist er immer noch lustig. Dieser Humor, ob dunkel oder nicht, funktioniert in der Geschichte deshalb so gut, weil er die gewalttätigen und gruseligen Aspekte noch mehr akzentuiert. Märchen funktionieren tatsächlich so, nicht wahr? Trolle sind das beste Beispiel dafür. Ihr groteskes Aussehen mag zunächst etwas abschreckend sein, aber sie sind oft lustige, dumpfe Kräfte. Wenn die Trolle dann von Kanonenkugeln in Stücke geschossen werden, ist das in gewisser Weise schockierend. Der Leser bekommt dann schon fast Mitleid mit ihnen.

Können Sie uns einen kleinen Ausblick geben, was die Leser in „Drift Welt 3“ erwartet?

Eine Konfrontation mit der Hexe ist natürlich unvermeidlich. Dellric, Ysabeau und der Rote Zauberer tappen im Dunkeln und wissen nicht, wo sich ihre Wege mit der Hexe kreuzen. So bittet der Rote Zauberer alte Verbündete um Hilfe…

Fazit: Wen würden Sie persönlich lieber NICHT in einer dunklen Gasse treffen: die Spinnenhexe Shulam oder die Trollkönigin Mutter K’nosser?

Ohne Zweifel die Spinnenhexe Shulam! Sie kennt keine Gnade und will nur ihre Sklavenarmee aus Moorkörpern erweitern. Wenn Mutter K’Nosser dich mag, könntest du zumindest noch mit einer roten Schleife um deinen Schwanz in ihrem Harem landen. Nicht besonders toll, aber zumindest lebst du noch!

Übersetzung: Nadja Poser

Seite aus „Drift Welt Bd. 2“ (Splitter Verlag)