Vom Leben im 17. Jahrhundert

Sie gilt als eine Art Wunderkind der Barockliteratur: Sibylla Schwarz wurde gerade mal 17 Jahre alt und verfasste rund 100 Gedichte, die nach ihrem Tod in zwei Gedichtbänden veröffentlicht wurden. Sibylla Schwarz ist in Vergessenheit geraten und es gibt kaum Quellen über sie. Der mehrfach ausgezeichnete Comic-Künstler Max Baitinger hat dennoch eine Biografie der Barockdichterin gezeichnet.

Der Comic beginnt mit einem Zweifel: Kann man der Dichterin bei der dünnen Quellenlage überhaupt nahekommen? Dazu malt Max Baitinger die Konturen einer Strandlandschaft mit verdünnter Tusche, sodass die Konturen verlaufen, als könne man sie nicht fassen. In dieser Landschaft steht Sibylla, mit klaren Linien umrissen. Max Baitinger zeichnet also ein klares Bild von ihr – und listet dann alles auf, was er von ihr weiß. Und dass ist so dürftig, dass er nach 15 Seiten schon das Ende der Graphic Novel ausruft. Das Bild, das wir von Sibylla Schwarz haben können, ist also alles andere als klar.

Max Baitinger: „Sibylla“.
Reprodukt, Berlin 2021. 176 Seiten. 24 Euro

Deshalb nähert Baitinger sich im Folgenden von ganz unterschiedlichen Seiten dieser Dichterin an: Er recherchiert, wie das Leben im 17. Jahrhundert war, mit der Pest und dem Dreißigjährigen Krieg. Er arbeitet Forschungsergebnisse ein und setzt diesen Härten die Gedichte der Sibylla Schwarz gegenüber, die in wohlgesetzten Worten von ihrer Sehnsucht nach einer heilen Welt erzählt oder sich mit dem Tod auseinandersetzt. Für Max Baitinger ist dabei eine Frage immer wichtiger geworden: Wie kann man in einer so brutalen Zeit kreativ sein?

Sibylla Schwarz wurde 1621 geboren, war die jüngste Tochter des Bürgermeisters von Greifswald. Als sie neun Jahre alt war, starb ihre Mutter, von da an führte sie ihrem Vater den Haushalt, erledigte seinen Schriftverkehr. Ein Jahr später marschierten die Schweden in Greifswald ein und die Familie floh aufs Land. In dieser Zeit fing Sibylla mit dem Dichten an. Als sie im Jahr 1638 an der Ruhr starb, war sie gerade mal 17 Jahre alt und hatte schon rund 100 Gedichte geschrieben, die posthum veröffentlich wurden.

Der Comic „Sibylla“ ist eine Annäherung an Sibylla Schwarz und ihr Werk, bei der sich Text und Bilder kunstvoll verschränken. Um den Dreißigjährigen Krieg zu erklären, erzählt Baitinger zum Beispiel die Mentalitätsgeschichte des Christentums: Von der Schöpfung, über die Geburt Jesu Christi, dessen Heilsversprechen von der Institution Kirche aufgegriffen und mit dem Ablasshandel wirtschaftlich verwertet wird – worum dann wiederum ein erbitterter Streit ausbricht, der im Dreißigjährigen Krieg mehrere Millionen Tote fordert.

Baitinger erzählt das mit wuchtigen Strichen und einem Rot, das den Himmel verdunkelt. Die nächste Szene beginnt mit einer dieser feinen Tuschezeichnungen von dem Landhaus, in dem Sibylla wohnt – allein diese Bilder zeigen den Kontrast zwischen dieser feingeistigen jungen Frau und dem brutalen Umfeld, in dem sie lebte. Max Baitinger arbeitet in seinem Comic immer wieder mit starken Brüchen und zeichnet so ein kraftvolles Panorama vom Leben im 17. Jahrhundert.

Mit den Brüchen dokumentiert Baitinger zugleich seine Recherchearbeit. Drei Jahre lang hat Max Baitinger an dem Comic gearbeitet, in der Zeit gab es immer neue Forschungsergebnisse, die den Erzählfluss seines Comics störten. Mit „Sibylla“ zeigt Max Baitinger, wie absurd eine Gedenkkultur ist, die sich auf wenig Fakten und viel Spekulation stützt – und trotzdem in sich schlüssige Biografien liefert.

Und zugleich verdichtet er die politische Lage und die Mentalität des 17. Jahrhunderts und die Fragmente der individuellen Geschichte der Sibylla Schwarz auf so poetische Weise, dass der Comic „Sibylla“ selbst wie ein grafisches Gedicht wirkt.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.10.2021 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Sibylla“ (Reprodukt)