„Erzählerisch öffnet das Meer für mich einen Raum zum Fantastischen“

„Viktoria Aal“ ist ein Pageturner von einem Indie-Comic, der märchenhaft und lebensnah zugleich ist und von Themen wie Autor*innenschaft und kreativen Prozessen, den Tücken des Verlagswesens und der Selbstvermarktung, aber auch Körperlichkeit, queerer Partner*innenschaft und nicht zuletzt Meerjungfrauen handelt.

Wiebke Bolduans Hauptfigur ist die introvertierte Nachwuchsautorin Bruks. Bruks hat einen lebensbejahenden Roman über eine Meerjungfrau namens Viktoria Aal geschrieben, die all das verkörpert, was Bruks nicht ist: Viktoria ist dauerglücklich, selbstbewusst, eine Nixe eben. Nach der Absage eines Verlags lässt Bruks ihre unbeschwerte Figur zunächst hinter sich. Dann aber holt das eigene Werk sie unerwartet wieder ein und es kommt zu einer unfreiwilligen Veröffentlichung, in deren Folge sich ein wahrer Hype um das rätselhafte Buch entwickelt. Inmitten einer Meerjungfrauenshow erzählt die Hamburger Zeichnerin Wiebke Bolduan von Selbstakzeptanz und zwischenmenschlichen Beziehungen. Die darin auftauchenden Figuren sind voller Tiefgang und Witz. Über den Hintergrund ihrer Arbeit spricht sie im folgenden Presse-Interview.

Liebe Wiebke, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über deinen Comic „Viktoria Aal“ zu sprechen. Da es das erste Werk aus deiner Feder ist, das bei Reprodukt erscheint, magst du uns eingangs erzählen, wie du Comics für dich entdeckt hast und wann du dich entschlossen hast, selbst welche zu zeichnen?

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich schon als Kind und Jugendliche überdurchschnittlich viele Comics gelesen hab. Aber ehrlicherweise war das nicht so. Ich hab das „Lustige Taschenbuch“ gelesen, dann hab ich ein paar der damals gängigen Manga-Reihen, etwa „Detektiv Conan“, gelesen, und später kamen ich auch einige Webcomics dazu. Aber mehr war eigentlich nicht los. Komischerweise bin ich aber ziemlich früh beim Comiczeichnen hängengeblieben. Ich hab mir schon immer gern Geschichten ausgedacht, und daraus Comics zu machen, war für mich irgendwie am zugänglichsten. Das ist auch heute noch so. Und meine gesamte Jugend über habe ich immer davon geträumt, mal eine richtig lange Geschichte zu zeichnen. Ich bin aber nie über die ersten paar Seiten hinausgekommen, weil ich immer super unzufrieden mit mir war. Auch als ich dann mit Anfang 20 das Studium begonnen hab, wusste ich, dass alles, was ich will, eigentlich ist, einen richtig großen Comic zu zeichnen, mit einer selbstausgedachten Geschichte und eigenen Figuren. Und da hat es dann auch endlich geklappt.

Du hast Illustration an der HAW Hamburg studiert. Wie wichtig war diese Zeit für dich als Comiczeichnerin und dein weiteres künstlerisches Schaffen?

Erst während des Studiums hab ich richtig angefangen, Comics zu lesen. Dort entdeckte ich auch zum ersten Mal Comics, deren Erzählweise und Zeichenstil mir so sehr gefielen, dass ich dadurch erst begriffen habe, wie ich eigentlich erzählen und zeichnen wollte. Gleichzeitig hab ich ein paar Jahre vor und dann im Studium wirklich viel gezeichnet, bis es mehr und mehr zu einer Art Handschrift geworden ist, auf die ich mich verlassen kann. Die Sicherheit beim Zeichnen zu finden war sehr wichtig. Dadurch konnte ich mich dann mehr auf das Erfinden der Geschichte des Comics konzentrieren und bin nicht mehr direkt beim Zeichnen der ersten paar Seiten ins Stocken geraten. Abgesehen davon weiß ich auch nicht, wie ich ohne die Menschen, die ich im Studium kennengelernt habe, jemals einen Kontakt zur (Hamburger) Comicszene gefunden hätte.

„Viktoria Aal“ erzählt die Geschichte der unglücklichen Bruks. Sie erschafft die Romanfigur Viktoria Aal, eine Meerjungfrau, die immerzu glücklich ist. Du beschäftigst dich in deinem Comic mit Themen wie Autor*innenschaft und Selbstakzeptanz und stellst die zentrale Frage: „Wie bin ich denn?“ Was hat dich zu dieser Geschichte inspiriert?

Als ich anfing, über „Viktoria Aal“ nachzudenken, habe ich vor allem auch viel über mich selbst nachgedacht. Weil ich etwas finden wollte, das mich gerade sehr beschäftigt und was ich durch eine Geschichte weiterverfolgen und ausdrücken wollte. Und dann ist mir relativ schnell klar geworden, dass das eigentlich genau das Thema ist, um das ich keinen Bogen mehr machen kann: der Kontrast von innen und außen, wie verwirrend es ist, jemand zu sein, die so unzufrieden und unsicher mit sich ist und gleichzeitig den Drang hat, etwas davon nach außen zu tragen. Die Meerjungfrau Viktoria Aal, die sich Bruks ausdenkt, ist dabei für mich so bezeichnend: Sie fühlt sich unehrlich an und ist zugleich Teil von einer sehr ehrlichen, aber deswegen sehr schwierigen Auseinandersetzung von Bruks mit sich selbst.

Schon dein Comic „Warnebi“, für den du 2022 mit einem Ginco Award geehrt wurdest, hat maritime Momente. Mit „Viktoria Aal“ tauchen wir nun noch tiefer in die Meereswelt ein. Was fasziniert dich an diesem Motiv?

Wenn ich darüber nachdenke, endet es immer schnell im Kitsch, aber so ist es nun mal. Ich mag es zum Beispiel, dass wir Menschen nicht dafür gemacht sind, unter Wasser zu leben. Das Meer ist eine Welt für sich, ohne uns, und das gefällt mir. Abgesehen davon, dass ich natürlich weiß, dass wir uns leider sehr wohl Zugang zu dieser Welt verschaffen und (schlechten) Einfluss nehmen. Aber erzählerisch öffnet das Meer für mich einen Raum zum Fantastischen und zum Verborgenen – das ist der Kitsch. Andererseits war ich als Kind oft am Meer in nördlicheren Gefilden, und vor allem davon hat sich so viel eingebrannt: felsige Strände, Dünen, viel Wind, raue See, alles Denkbare an Meeresgetier… Ich fühle mich sofort wohl, alles daran ist faszinierend, und deswegen ist es auch ein Setting, in dem ich mich gern weiter aufhalte.

Die Charaktere in deinem Comic sind allesamt voller Tiefgang, ihre Gedanken, Sorgen und Handlungen sehr nachvollziehbar. Wie entwickelst du die Figuren für deine Geschichte?

Wie schon gesagt versuche ich meine Geschichten aus Themen zu entwickeln, die mich persönlich betreffen. Ziel ist es aber nicht, eine Figur zu erschaffen, die 1:1 wie ich ist, sondern eher auf Aspekten, vielleicht auch Momentaufnahmen, von mir beruht. Ich finde oft in mir Widersprüche, und das fließt auch in die unterschiedlichen Figuren ein. Dadurch kann ich sie selbst aber auch alle sehr gut nachvollziehen. Ich würde sagen, dass das einer der Hauptansprüche an meine Figuren ist: dass ich sie selbst verstehen kann. Was eben aber auch nicht heißt, dass ich immer gutheiße, wie sie sich verhalten. Die Herausforderung ist dann natürlich noch, dass die Figuren im besten Fall nicht nur für mich, sondern auch für andere nachvollziehbar sind.

„Viktoria Aal“ erzählt eine fantastische Geschichte, und zugleich finden sich Parallelen zu dir als junge Autorin. In welchem Bezug stehen diese beiden Seiten zueinander?

Als Autorin halte ich mich sehr viel in meiner Fantasie auf. Das hab ich immer schon. Nur früher hab ich die Geschichten, die ich mir ausdachte, für mich behalten. Jetzt mache ich das, was ich mir ausdenke und mich beschäftigt, aber auch öffentlich und teile es mit. Das fühlt sich immer sehr unterschiedlich an: unheimlich, aufregend, gut, peinlich, reinigend, zu viel, zu wenig. Egal wie fantastisch ich eine Geschichte erzähle, es steckt sehr, sehr viel Persönliches drin, und das ist auch genau richtig so. Aber eben auch sehr herausfordernd für eine Person, die oft hadert mit ihrem Innenleben und dem, was sie davon nach außen trägt und wie sie das tut. Ich wollte dieses Spannungsfeld in der Geschichte verarbeiten, weil es das ist, was mich gerade sehr umtreibt, und ich mir auch vorstelle, dass ich nicht die einzige bin, der es so geht.

Du hast einen unverwechselbaren Zeichenstil. Kannst du uns ein bisschen davon erzählen, wie du arbeitest?

Ich habe lange daran gearbeitet, mir beim Zeichnen eine gewisse Leichtigkeit zuzutrauen und auch zuzugestehen. Und vor allem eine Eigenheit zu finden – etwas, das sich nach mir anfühlt und das ich mir nicht aufzwinge. Mit dem Beginn des Studiums habe ich viel mehr Arbeiten von anderen gesehen als je zuvor, und ich weiß, dass ich da wirklich bewusst entschieden habe, bei mir zu bleiben, eine zeichnerische Sprache zu entwickeln, die aus mir kommt. Was überhaupt nicht heißt, dass ich mich vor Einflüssen von außen verschließe, aber letztendlich bin es ja ich, die tagtäglich zeichnet und sich wohlfühlen muss mit dem, was sie macht und wie sie es macht. Ich aber auch gemerkt, dass ich neben Leichtigkeit viel Ordnung brauche. Einen klaren Rahmen, in dem ich mich bewege, und klare Schritte. Nur dadurch hab ich auch die nötige Ruhe, um Lockerheit in meine Zeichnungen zu bringen.

Bei Reprodukt werden neben „Viktoria Aal“ auch Werke von deinen ehemaligen Kommiliton*innen Ika Sperling und Noëlle Kröger erscheinen. Welche Bedeutung hat der Austausch mit den beiden für dich und deine Arbeit?

„Viktoria Aal“ hätte ich niemals ohne Austausch mit anderen auf die Beine stellen können. Es geht ja allein schon darum, dass ich etwas erschaffe, das für ein Publikum bestimmt ist und irgendwie verständlich sein soll. Ein Blick von jemand anderem auf das Projekt während seiner Entstehung ist also komplett notwendig. Für mich ist es dabei aber extrem wichtig, wer die Personen sind, die auf das Projekt schauen. Im besten Fall sind es Personen, die meine Arbeiten gut kennen und die mich in Verbindung mit meinen Arbeiten kennen. Und die sich vielleicht sogar selbst mit Geschichtenerzählen und Comiczeichnen beschäftigen. Genau das sind Ika und Noëlle. Und natürlich kenne ich auch ihre Arbeiten und Arbeitsweisen, was wiederum den Austausch noch ergiebiger macht. Dass wir befreundet sind, ist ein zusätzlicher Bonus.

Zum Schluss ein kleiner Ausblick in die Zukunft: Hast du bereits Ideen für weitere Comic-Projekte?

Die Idee zu „Viktoria Aal“ ist mir schon gekommen, während ich an „Warnebi“ gearbeitet habe. So war es jetzt auch wieder. Ich arbeite an einer neuen Geschichte, die sich gerade immer weiter formt und findet. Thematisch schließt es an „Viktoria Aal“ an, nimmt aber neue Abbiegungen. Es geht um eine schwierige Freundschaft, um Facetten von Wut und eine Insel… Vor allem möchte ich das Projekt nutzen, um bewusst meine Erfahrung als Autistin zu verarbeiten. Ansonsten beäuge ich auch schon seit einiger Zeit eine Idee für einen längeren Kindercomic, die ich hoffentlich nach und nach weiterverfolgen kann.

Wiebke Bolduan: Viktoria Aal • Reprodukt, Berlin 2024 • 240 Seiten • Softcover • 20,00 Euro