Nach dem Leben greifen

In ihrer Comic-Biografie über Anaïs Nin zeigt Léonie Bischoff eine mutige junge Frau und ihre Befreiung aus den Zwängen gesellschaftlicher Vorstellungen.

Die Graphic-Novel-Biografie „Anaïs Nin. Im Meer der Lügen“ beginnt, passend zum Titel, auf dem Meer. Unter dem dunklen Himmel türmen sich meterhohe Wellen, darauf balanciert winzig klein ein Segelschiff und wird schließlich gegen die Felsen geschmettert. Dann ein Cut. Wie die Überreste des Wracks liegen Notizbücher und einzelne Seiten auf einem Parkettboden, dazwischen liegt zusammengekrümmt eine junge Frau, das Gesicht in den Händen vergraben, ihr langes Haar verteilt sich um den Kopf wie die Wellen des stürmischen Meeres. Dann richtet sie sich auf, ordnet ihr Haar und ihre Notizen.

Die junge Frau auf den Bildern stellt die 1903 in Frankreich geborene französisch-amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin dar, deren literarisches Schaffen ebenfalls auf dem Meer begonnen haben soll. Auf der Überfahrt von Barcelona nach New York begann sie als Elfjährige an den Vater zu schreiben, der die Familie verlassen hatte und den sie sehr vermisste. Ihre Briefe entwickelten sich zu den Tagebüchern, für deren Veröffentlichung Anaïs Nin später bekannt wurde. Darin verwob sie Autobiografie und Fiktion miteinander und beschrieb explizit erotische Handlungen, etwa den Inzest mit ihrem Vater oder die Beziehung zu Henry Miller, auf dessen Werk sie einen entscheidenden Einfluss hatte.

Komplett gezeichnet mit einem mehrfarbigen Buntstift, wirft die Schweizer Comic-Autorin und Illustratorin Léonie Bischoff einen knapp 200 Seiten langen Blick auf die Zeit ab den späten 20er Jahren, als Anaïs Nin mit ihrem Mann, dem Bankangestellten und späteren Filmemacher Hugh „Hugo“ Parker Guiler, in Paris lebte. Die Stadt der Bohème ist Treffpunkt und kreatives Zentrum für Kulturschaffende aus aller Welt. Als Unterstützer mittelloser Künstler sind Anaïs und ihr Mann Teil der Szene. Schreibend bemüht sich auch Nin um ihr künstlerisches Coming-out. Dabei stellt sie zunehmend fest, dass sie zwei Tagebücher über zwei Leben führt – eins als liebende Ehefrau und eins, in dem sie mit ihren Liebhabern erotische Fantasien und Triebe auslebt.

Szene aus „Anaïs Nin“ (Splitter Verlag)

Zarte Zeichnungen, in denen nur die Protagonisten ohne Hintergrund dargestellt sind, wechseln mit einzelnen Sequenzen oder ganzseitigen voll auskolorierten Bildern. Das Haar von Anaïs Nin bildet eine dunkle, wellige konstante Komponente in den Bildern, besonders wenn es offen ist und durch den Bildraum zu fließen scheint, ihn füllen zu wollen scheint. Überhaupt finden sich viele fließende Linien in dem Band, die die Bilder sehr sinnlich erscheinen lassen. In Kombination mit den Farbverläufen des Buntstifts entstehen luftige Szenen, für die in den großzügigen Panels viel Platz ist. Einem festen Schema folgt die Anordnung der Panels nicht. Sie passen sich in Rhythmus und Größe der Handlung und den Motiven an – und spiegeln damit auf formeller Ebene die Suche der Hauptprotagonistin nach ihrem eigenen Weg zwischen großbürgerlichem Eheleben und sexueller wie künstlerischer Befreiung.

Einen großen Teil der Biografie nimmt Nins Begegnung mit dem älteren Schriftsteller Henry Miller ein. Mit ihm verband sie nicht nur eine leidenschaftliche Affäre, sondern auch ein sehr kreativer intellektueller Austausch, aus dem Miller bedeutende Impulse etwa für „Im Wendekreis des Krebses“ gewann. Aufgrund dieser Umstände wird Anaïs Nin noch heute häufig als Muse von Henry Miller bezeichnet – obwohl durch die Beziehung auch ihr eigenes künstlerisches Schaffen starken Auftrieb erhielt. Dies – und auch Nins Konflikte mit männlichen Stereotypen, mit denen sie konfrontiert wird und gegen die sie sich zur Wehr setzt – stellt Bischoff äußerst glaubhaft als Teil der Biografie dar, etwa wenn sie auf Kritik von Miller an ihrem Geschriebenen reagiert: „Jeder Mann, der meine Texte gelesen hat, hat versucht, meinen Schreibstil zu ändern. Wie ein Mann zu schreiben, interessiert mich aber nicht.“

Léonie Bischoffs Figuren wirken sehr idealisiert und glatt, wenig in die Tiefe gehend. Die Augen in den Gesichtern sind überproportional groß, die Füße winzig. Trotzdem bleiben die Zeichnungen präzise.

Bischoff lebt und arbeitet in Brüssel. Als Mitglied des Collectif des créatrices de bandes dessinées contre le sexisme macht sie sich mit anderen Comic-Künstlerinnen gegen Sexismus im Bereich der Comic-Kritik stark. 2020 wurde „Anaïs Nin. Im Meer der Lügen“ auf dem Comic-Festival in Angoulême mit dem Publikumspreis geehrt.

Diese Kritik erschien zuerst am 25.03.2022 in: Der Tagesspiegel

Rilana Kubassa, geb. 1980, ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt als Journalistin, Autorin und freie Lektorin in Berlin. Ihre Texte über Comics erscheinen auch im Tagesspiegel und bei Closure.

Léonie Bischoff: „Anaïs Nin. Im Meer der Lügen“. Aus dem Französischen von Désirée Schneider. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 192 Seiten. 29,80 Euro