Der Berg raubt

Für den rastlosen Westerner ist die Suche gleichbedeutend mit der kolonialen Erschließung von Heimat. Deswegen ist in den klügsten Panoramaufnahmen von Monument Valley auch stets das insgeheime Wissen darüber verborgen, dass diese äußere Kolonialisierung nur mit einer inneren zu haben ist. Die dümmsten Aufnahmen hingegen wollen von dieser gegenseitigen Abhängigkeit nichts wissen. Sie unterwerfen die Welt zur notfalls mit Gewalt formbaren Ressource. Sujet und Erzählmethode werden eins und der künstlerische Blick wird selbst ein kolonialistischer.

„Auf der Suche nach Peter Pan“, das erste, 1984 publizierte Comicepos vom Schweizer Künstler Bernard Cosandey, kurz Cosey, besitzt eine klassische Western-Exposition: In stummen Bildern sehen wir darin einen uniformierten Kutscher, der seine Pferde stoisch durch eine riesige Felsenlandschaft, den Walliser Alpen, lenkt. Der schnelle Wechsel aus Totalen, Halbtotalen und extremen Totalen indiziert nicht nur Coseys Gespür für ein sehr filmisches und perspektivgesteuertes Erzählen, sondern auch die Anwesenheit eines Beobachters. Und tatsächlich schiebt sich ein kreisförmiges Panel in die sonst horizontal angeordnete Bilderstruktur: Ein bärtiger Mann mit tief heruntergezogenem Hut beobachtet das Treiben, bis er im rechten Augenblick unbemerkt auf die Postkutsche springt. Hier endet bereits die Westernanalogie, handelt es sich doch nicht um einen Überfall, sondern um die Flucht des Geldfälschers Baptistin, der in den Alpengebirgen regelmäßig Zuflucht vor den Dorfgendarmen sucht. In dieser Sequenz zeigt Cosey aber bereits, dass der Naturraum erzählerisch eine exponierte Stellung einnehmen wird. Er illustriert und verdoppelt nämlich die Sinnsuche des Schriftstellers Melvin Woodsworth, der eigentlichen Hauptfigur, der sich in dem kleinen Bergdorf Ardolaz zurückgezogen hat, um seine Schreibblockade zu bekämpfen. So lautet zumindest seine Selbsterklärung. Tatsächlich verbindet ihn mit diesem Ort auch der Tod seines Bruders und die daraus resultierende Sinnsuche offenbart sich eher als tastende Introspektion, als energische Suche nach irgendeinem Glück und zu guter Letzt auch als waghalsige Konfrontation mit der Natur, die dieses Glück verwährt und zugleich verspricht.

Der Clou der Geschichte besteht darin, dass Melvins Motivationen relativ nebulös bleiben, nur die Natur bebildert metaphorisch seine Psyche. Die opulenten Zeichnungen sind beidseitig lesbar: als Heimatikone und als Bildnis einer zerstörten Psyche. Zu tollkühn, zu arglos, eben auch zu passiv begibt sich Melvin ins Eis, schlägt alle Warnungen in den Wind und bleibt selbst nach der Evakuierung des Dorfes (aufgrund der Lawinengefahr) heimlich wie trotzig zurück – und liest Dickens und wartet. Damit wird er zum fatalistischen Abenteurer, seine Odyssee ein destruktives Spiel mit den Naturgewalten, keineswegs ein Kräftemessen, an dessen Ende die Bewältigung und mit ihr die Restauration von Heimat steht. Im Prinzip erzählt Cosey die traurige und eben auch unheimliche Geschichte eines Mannes, der auszog, sein Ich in der Schönheit des Abweisenden zu finden – und dabei dessen Destruktivität unterschätzt. Dass Cosey ihm dafür ein unerhört kitschiges Happy End spendiert, lässt das Resultat auf eine seltsame Art und Weise romantisch erscheinen.

Bei Cross Cult erschien bereits 2009 eine sehr schöne Edition von Coseys Klassiker. Für die kürzlich veröffentlichte Neuauflage hat Comicexperte Andreas C. Knigge ein neues Vorwort geschrieben, außerdem ist eine Schwarz-Weiß-Ausgabe erhältlich.

Dieser Beitrag erschien (leicht verändert) zuerst am 11.06.2009 auf satt.org.

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

Cosey: „Auf der Suche nach Peter Pan“. Cross Cult, Ludwigsburg 2022. 160 Seiten. 30 Euro. Auch als s/w-Ausgabe erhältlich.