„Finnland war damals eines der am wenigsten entwickelten Länder in Europa“

Die finnische Sprache kennt eine Myriade von speziellen Vokabeln für die Konsistenz von Schnee, und wenn man die neue Graphic Novel des finnischen Comicstars Ville Ranta liest, versteht man auch, warum das so ist. Der Schnee ist allgegenwärtig in der Comicbiografie „Kajaani“, die vom Leben des finnischen Schriftstellers und Intellektuellen Elias Lönnrot erzählt, der im 19. Jahrhundert das Nationalepos „Kalevala“ veröffentlicht hat. Anfang des 19. Jahrhunderts ging Finnland, nachdem es seit dem Mittelalter von Schweden regiert wurde, in die Machtsphäre Russlands über. Jahrhunderte der schwedischen Vorherrschaft hatten die finnische Sprache an den Rand gedrängt, eine finnischsprachige Literatur im modernen Sinne existierte nicht. In diese Zeit wurde Elias Lönnrot (1802–1884) hineingeboren. Als Landarzt lebte er über 20 Jahre in der finnischen Einöde, in einer Kleinstadt namens Kajaani mit nur 400 Einwohnern. Aber seine Leidenschaft galt der finnischen Folklore und der finnischen Sprache. Unermüdlich unternahm Lönnrot immer wieder Reisen nach Weißmeerkarelien und in andere entlegene Gegenden, um Runenlieder zu sammeln. 1835 veröffentlichte er die „Kalevala“, ein auf finnischen Mythen basierendes Epos und der erste Beitrag Finnlands zur Weltliteratur. Es folgten weitere zahlreiche Sammlungen, populärwissenschaftliche Werke und sogar das allererste finnische Wörterbuch.

Ville Rantas Graphic Novel „Kajaani“ setzt Elias Lönnrot ein augenzwinkerndes Denkmal. Ville Ranta selbst zählt in Finnland zu den bekanntesten Comiczeichner*innen des Landes. Sein Comic „Mohammed, Fear and Freedom of Speech“ erschien in der Kulturzeitschrift „Kaltio“, löste 2006 einen Skandal aus und führte zur Entlassung des Chefredakteurs des Magazins. In „Kajaani“ erzählt er vom jungen Elias Lönnrot, der in der finnischen Einsiedelei zugleich aufblüht und verwelkt. Im folgenden Presse-Interview (geführt von Hanna Hannig, Reprodukt) spricht Ranta über die Hintergründe des Projekts.

Bild aus „Kajaani“ (Reprodukt)

Lieber Ville, danke erst mal für das Gespräch. Elias Lönnrot und seine Geschichten sind sehr bekannt. Warum hast du dich entschieden, einen Comic über eine historische Person wie ihn zu machen?

Das 19. Jahrhundert faszinierte mich zu dieser Zeit und das tut es noch immer. Die Geschichte dieser Zeit ist nicht allzu lange her, für die meisten in Europa war es bereits die Neuzeit. Aber nicht in Finnland. Finnland war damals eines der am wenigsten entwickelten Länder in Europa (und ein Teil des russischen Imperiums) und sehr arm. Man könnte es mit heutigen Entwicklungsländern vergleichen. Doch Elias Lönnrot war eine sehr moderne Persönlichkeit. Er glaubte an Wissenschaft, Kultur, Literatur usw. Ich sah hier also eine interessante Kombination aus einer hinterwäldlerischen Umgebung und einer Figur, deren Ideen und Handlungen denen unserer heutigen Zeit entsprechen. Aber natürlich geht es in der Geschichte um mehr als das, es geht um Verantwortung und den Wunsch nach Unabhängigkeit.

Wie sind die Recherchen verlaufen? Gab es etwas Überraschendes in Elias Lönnrots Leben, das dich fasziniert hat? Was interessiert dich an Elias Lönnrot als Person und wie hast du das in deinem Comic aufgegriffen?

Zu dieser Zeit bin ich gerade Vater geworden und musste viel Zeit zu Hause verbringen. Ich hatte keine Zeit (oder kein Geld), um mich auf meine Kunst zu konzentrieren. Also kümmerte ich mich hauptsächlich um das Baby zu Hause und habe viel gelesen. Ich plante diese Geschichte, während ich das Baby abends ins Bett brachte. Elias Lönnrot war ein Landarzt, der einzige Arzt in einem riesigen Gebiet. Er hatte eine Menge Projekte, um die Menschen im östlichen Finnland zu zivilisieren und Bücher zu schreiben. Er war ein alleinstehender Mann mit vielen Beziehungen zu Frauen. Aber ich habe diese Romanzen erfunden. Es gab kein genaues historisches Material, denn als alter Mann vernichtete Lönnrot seine Tagebücher. Er war damals ein Nationalheld. Er wollte keine peinlichen oder persönlichen Informationen hinterlassen. Aber noch heute gibt es in Nordfinnland Geschichten und Gerüchte über sein Leben und seine Liebesaffären.

Bild aus „Kajaani“ (Reprodukt)

Elias Lönnrot war ein Schriftsteller, Philologe und Arzt. Er leistete viele Beiträge zur Gesellschaft. Im Gegensatz dazu steht sein Privatleben, in dem er immer wieder zu straucheln scheint. Wie stehen diese beiden Seiten im Verhältnis und wie hast du das in deinem Comic umgesetzt?

„Kajaani“ ist keine Biografie. Lönnrots reiches wissenschaftliches, medizinisches und literarisches Werk wird in der Geschichte nur hier und da erwähnt. Ich wollte eine Geschichte über das Finnland des 19. Jahrhunderts, über ferne Orte und über einen kämpfenden modernen Mann schreiben, der versucht, seine Pflichten zu erfüllen und sein Leben in einer recht seltsamen Umgebung frei zu leben.

Mit Elias beschreibst du in deinem Comic eine Figur, die sich durch eine unnahbare Weise und teils unsympathisch präsentiert. Dennoch wünscht man ihm bei der Lektüre, dass er seinen Frieden findet. Warum glaubst du, ist das so?
 
Es stimmt, dass meine Figur hohe Ansprüche an sich selbst stellt und ziemlich egoistisch und heuchlerisch ist. Aber er ist auch schwach und verloren. Es stellt sich die Frage, warum er eigentlich in Kajaani bleibt, wo er doch lieber in einer zivilisierteren Gesellschaft in Helsinki leben würde, wo seine Freunde und Kollegen sind. Damals fühlte ich mich selbst in einer Kleinstadt in Oulu festgefahren. Ich hatte das gleiche Problem. Ich träumte von Paris und Helsinki (später lebte ich in diesen beiden Städten und lebe immer noch in Helsinki). Aber diese seltsamen Kleinstädte in Nordfinnland haben etwas Besonderes an sich.

In deinem Comic begleiten wir Elias auf seinen Reisen und erleben ihn dabei als ruhelosen Einzelgänger. Dennoch kann er in gewisser Weise nicht aufhören, über die Liebe und Ehe nachzudenken. Ist das ein wichtiges Leitmotiv in dem Comic?

Das ist eines der kontroversen Elemente, die in ihm stecken. Aber es geht auch um die Werte der damaligen Zeit. Eine richtige Ehe, eine respektable Rolle in der Gesellschaft. Er könnte all das haben, aber irgendwie hält er sich selbst davon ab. Eine der Hauptfragen, die ich in meinen Geschichten immer stelle, ist: Warum handeln die Menschen so oft gegen ihre eigenen Ideale und ihr eigenes Wohl, und zwar auf so viele Arten? Wir wissen, was gut oder richtig ist, aber letztendlich tun wir etwas anderes.

Elias Lönnrot wurde 1802 geboren und lebte im 19. Jahrhundert. Glaubst du, die hier angesprochen Themen sind nach wie vor aktuell?

Ich weiß nicht, ob der echte Elias Lönnrot sehr interessant ist. Interessanter ist für mich, und hoffentlich auch für die Leser, die Zeit, der Ort und der Zustand des Menschen, der immer derselbe war. Wir kämpfen, wir irren uns. Wir haben hohe moralische Ansprüche, die wir überhaupt nicht erreichen.

Ville Ranta: „Kajaani – Der Verbannte der Kalevala“. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Reprodukt, Berlin 2022. 288 Seiten. 29 Euro