Zurück ins Amerika der Hippies, Kerzen und Drogen. In Daniel Clowes’ Graphic Novel „Monica“ rekonstruiert die Titelfigur ihre Biographie und die der abwesenden Mutter. Zugleich steckt sehr viel US-amerikanische Gegenwart in der Erzählung.
„Natürlich erinnere ich mich nicht an diese Zeit“, sagt Monica in Daniel Clowes’ gleichnamiger Graphic Novel über ihre Kindheit, „deshalb ist diese Geschichte zusammengestückelt aus den verzerrten Erinnerungen alter Spinner, die ’ne Menge Drogen genommen haben.“ Aber nicht nur die frühen Jahre werden undeutlich erinnert, auch das weitere Leben der Protagonistin voller Wendungen lässt sich nur unvollständig rekonstruieren. Bei der Lektüre wird schnell klar: Auf die Erzählerin Monica ist kein Verlass, selbst wichtige Ereignisse ihres Lebens bringt sie durcheinander. „Von da an lebte ich ein normales, glückliches und behütetes Leben. Aber meine Mutter sah ich nie wieder“, erklärt sie etwa, nachdem ihre Hippie-Mutter sie bei ihren Großeltern abgesetzt und sich aus dem Staub gemacht hatte. Aber so ganz stimmt das mit dem „sah ich nie wieder“ auch nicht.
Die Suche nach der Mutter stellt den zentralen Handlungsstrang dar, und tatsächlich trifft Monica diese wieder und führt mit ihr ein Gespräch über die Vergangenheit, was allerdings auf lediglich zwei Comicseiten abgehandelt wird. Wunsch, Traum oder Wirklichkeit? Wer Clowes mag, spielt dieses unsichere Spiel mit Realität, Fakten und Erinnerungen gerne mit, ergibt sich doch gerade aus den Bruchstücken in seinen Comics oftmals ein Gesamtbild gesellschaftlicher Verhältnisse. So ist „Monica“ nicht nur das Porträt einer Frau, die sich in verschiedenen Rollen ausprobiert, als Unternehmerin, Kreative, Sektenmitglied und als Mutter, um schließlich den eigenen familiären Hintergrund zu erkunden, sondern auch eine Chronik der USA vom Vietnam-Krieg bis in eine nahe Zukunft.
„Ich hatte das Gefühl, dass alles plötzlich außer Kontrolle geriet, und ich wollte ein Buch schreiben, das all das beinhaltet, es aber auch so unter Kontrolle bringt, dass ich das alles verarbeiten kann“, hat Clowes in einem Interview zum Entstehungsprozess von „Monica“ bemerkt. Donald Trumps erste Amtszeit hatte begonnen, Covid-19 hatte die Welt im Griff, und Clowes musste den Tod seiner Mutter und seines Bruders verarbeiten, denen „Monica“ auch gewidmet ist. Diese Erschütterungen sind auf jeder Seite der Graphic Novel zu spüren, in die auch weitere autobiographische Erfahrungen des Zeichners eingegangen sind: Clowes ist wie seine Protagonistin als Fünfjähriger zu seinen Großeltern gekommen und elternlos aufgewachsen. Sein Comic-Werk ist daher nicht zufällig durchzogen von abwesenden Elternfiguren, der Suche seiner Protagonisten nach etwas Stabilität im Leben und der Erkundung der eigenen Vergangenheit. Diese Suche zeigt er in „Monica“ auf bedrohlichen, unheimlich komponierten Bildern, zwischen Realität und Traum changierend, in surrealen Settings, bevölkert von sich selbst entfremdeten Charakteren.
1989 begann der 1961 in Chicago geborene Clowes, seine Heftreihe „Eightball“ zu veröffentlichen, worin die meisten seiner frühen Graphic Novels als Fortsetzungscomics erschienen sind. Im Impressum der ersten Ausgabe versteckt, gab Clowes bereits die Richtung vor, in die sich seine Comics entwickeln sollten: „Eine Orgie der Bosheit, Rache, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und sexuellen Perversion.“ Sein Frühwerk, das verstörende „Wie ein samtener Handschuh in eisernen Fesseln“ (1993), das mehr Fragen und offene Enden als Auflösungen der verschiedenen Erzählstränge anbietet, sein Durchbruch „Ghost World“ (1997) über die Suche der zwei jugendlichen Protagonistinnen Enid und Becky nach ihrem Platz in der Welt und „David Boring“ (2000), worin der Protagonist nach Informationen über seinen Vater recherchiert, erschienen in „Eightball“. Clowes stellte die Reihe, für die er zahlreiche wichtige Auszeichnungen erhalten hat, nach 23 Ausgaben im Jahr 2003 ein.
Diese Entscheidung wirkte sich in der Folge auf Form und Inhalt seiner Comics aus: Noch weniger als bisher musste er nun auf ein Lesepublikum Rücksicht nehmen, auf Serialität und Lesefluss; auch die Seitenkompositionen öffneten sich nun, waren weniger streng aufgebaut als noch in „Ghost World“ oder „David Boring“. Die Themen jedoch sollten auch in den als Graphic Novels veröffentlichten Arbeiten erhalten bleiben: „Wilson“ (2010) erzählte die Geschichte des gleichnamigen einsamen Misanthropen, der plötzlich damit konfrontiert ist, eine Tochter zu haben, von deren Existenz er bis zu ihrer Jugend nichts wusste; „Mr. Wonderful“ (2011) thematisierte erneut Einsamkeit und Unsicherheit, allerdings mit einem Happy End, während „Der Todesstrahl“ (2011) vordergründig formal und inhaltlich neue Wege ging und eine Superheldenstory präsentierte, unter der Oberfläche jedoch wieder auf Clowes’ Grundthemen zurückkam: Einsamkeit und Scheitern. Der Protagonist, Superheld Andy, ist zweifach geschiedener Zyniker, der bei seinem Großvater aufgewachsen ist, nachdem seine Eltern gestorben waren. In „Patience“ (2016) schließlich, einer Science-Fiction-Liebesgeschichte, reist der Protagonist, dessen schwangere Frau ermordet wurde, mit einer Zeitmaschine in eine Vergangenheit vor der Tragödie.
In „Monica“ führt Clowes diese Themen fort, dazu kommen Horrorelemente sowie eine Reflexion über die Ursprünge gegenwärtiger Verschwörungstheorien in der Esoterikszene der siebziger Jahre. Chronologisch wird die Biographie von Monica zusammengetragen, von den späten Sechzigern bis in die Gegenwart, angefangen mit einer Episode über ihre Mutter Penny, die sich, während ihr Verlobter Johnny in Vietnam kämpft, in Kommunen und freier Liebe auslebt; am Ende übergibt Penny ihre Tochter Monica den Großeltern.
Es folgt ein Sprung in Monicas drittes College-Jahr, ihr Großvater lebt bereits seit einigen Jahren nicht mehr, und nachdem nun auch noch die Großmutter gestorben ist, folgt der nächste Bruch in Monicas Leben: Sie fährt zum Ferienhaus der Großeltern an einen See, wo ihr Opa über ein altes Radio Kontakt aus dem Jenseits mit ihr aufnimmt. „Es fühlte sich völlig normal an“, findet Monica, und so reden die beiden über Alltag und Vergangenheit. Und als so „völlig normal“ wird diese Episode von Clowes auch gezeichnet, als Teil der Comic-Realität. Am Ende des Aufenthalts hat Monica einen schweren Autounfall und muss nach einem langen Koma wieder gehen und sprechen lernen, weswegen offen bleibt, wie viel von dem zuvor Erzählten real und wie viel ihrem gesundheitlichen Zustand zuzuschreiben ist.
Trotzdem baut sie später ein erfolgreiches Unternehmen auf, einen Kerzenhandel, verkauft diesen jedoch nach einigen Jahren an eine Großhandelskette, um ihre Mutter in den Überbleibseln einer Sekte zu suchen, aber auch, um sich selbst zu finden: „Eines Abends, etwa einen Monat nach dem Verkauf, hatte ich einen beunruhigenden Traum. Ich suchte mich selbst, fand aber nur leicht verfälschte Nachbildungen. Jede auf ihre eigene kaum wahrnehmbare Art daneben.“ Monica findet die Kommune und lebt dort eine Weile, bevor sie auch dieses Abenteuer hinter sich lässt; ihrer Mutter begegnet sie kurz darauf, allerdings stirbt diese wenig später.
Der Comic endet mit der Episode „Der jüngste Tag“ in der Gegenwart, in der Monica in einem Ferienstädtchen in Kalifornien als Verwalterin von Airbnb-Wohnungen arbeitet. Kurzzeitig glaubt man, dass sie von Clowes ein Happy End geschenkt bekommt, allerdings kippt die Story auf dem letzten Meter in einen Endzeit-Horror, der in zwischengeschobenen Episoden, die losgelöst von Monicas Biographie Schreckens-, Kriegs- oder Science-Fiction-Comics zitiert haben, bereits angedeutet wurde. Stilistisch erinnern diese Episoden an Horrorcomics der Siebziger, ein Stil, den Clowes auch in die Episoden um Monica herüberragen lässt.
Obwohl nur knapp zehn Seiten in der Jetztzeit angesiedelt sind, steckt sehr viel US-amerikanische Gegenwart in „Monica“, wenn auch vor allem vermittelt über die surrealen Elemente im Comic: Ständig neue Ereignisse schlagen in den Alltag der Protagonistin ein, die ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellen und die Welt aus den Fugen geraten lässt. Erklärungen suchen Menschen in Esoterik, im Verschwörungsglauben und dem Ausstieg aus der Gesellschaft in sektenähnliche Gemeinschaften, die Strukturen dort sind jedoch ebenso geprägt von autoritären Charakteren, Gewalt und Ausgrenzungen. Monica fühlt sich hingezogen und abgestoßen zugleich, schafft immer wieder den Absprung, nur um doch wieder eingeholt zu werden von Vergangenheit, Gegenwart und Apokalypse. Sie findet zwar ihre Mutter – und auch ihren biologischen Vater –, bleibt sich selbst aber bis zuletzt entfremdet und gesteuert von ihrer Vergangenheit, von Stimmen, die sie zwingen, sich selbst aufzugeben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 22/2025
Daniel Clowes: Monica • Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Wieland • Reprodukt, Berlin 2024 • 106 Seiten • Hardcover • 24,00 Euro
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt ist von ihm die Textsammlung „Nach Strich und Rahmen“ erschienen.