Im größten Automuseum Europas, dem Musée National de l‘Automobile – Collection Schlumpf im elsässischen Mülhausen, läuft bis zum 11. November die Sonderausstellung „En voiture avec Tintin“. Sie präsentiert ein Dutzend klassische Autos aus „Tim und Struppi“ und führt in die Arbeitweise der Studios Hergé ein.
Von außen könnte der Eindruck entstehen, Tim wäre schon fortgefahren: Nichts zu sehen von der berühmten Comicfigur am Mülhausener Musée National de l‘Automobile – Collection Schlumpf. Kein Plakat, keine Fahne, kein Schild weist auf die Sonderausstellung „En voiture avec Tintin“ hin. Selbst im Ausstellungsbereich fehlt zunächst jede Spur des berühmten Comicreporters. Die Sonderausstellung versteckt sich ziemlich weit hinten – aber dann fühlen sich Fans sofort zu Hause: Riesig prangt an einer Wand die berühmte Darstellung des Bremsmanövers von Schulze und Schultze aus „Der Fall Bienlein“ (1956). Nur Zentimeter vor Tim und Kapitän Haddock bringen die zwei Detektive ihren Citroën 2 CV abrupt zum Halt. Hart abgebremst neigt sich das Auto bedenklich nach vorne. Der Bremsschwung katapultiert Schulze und Schultze aus den Sitzen. Ihre Köpfe treten am Verdeck des 2 CV als Dellen hervor, um die Sternchen und geschlängelte Linien kreisen. Autsch, das hat wehgetan!
Fast meint man, Kapitän Haddocks Fluchen zu vernehmen: „Süßwassermatrose! Rennfahrer! Straßenschreck! Bandit!“ Doch tatsächlich zwitschern hier Vögel. Die Atmosphäre der Ausstellungsräume soll die Stimmung im Park von Schloss Mühlenhof, dem Familiensitz der Haddocks, nachstellen. Ab und zu trötet eine alte Autohupe. Vor der Wand mit dem Bremsmanöver steht ein echter 2 CV Baujahr 1957 – ohne Schieflage, mit Blinkern und in Hellblau. Im Comic ist die „Ente“ oder der „deux chevaux“ hellgrün. Als Vorbild diente zudem die Ausführung von 1950, der noch die Blinker fehlen. Dafür umgibt ein Oval aus Chrom das klassische Citroën-Markenzeichen am Kühlergrill. Ein Zwerg-Zwilling davon findet sich in einer Vitrine unweit von Zeichnung und Echtfahrzeug.
„Wir zeigen die richtigen, großen Autos und je ein Modell“, erklärt Camille Zimmermann vom Automuseum das Konzept der Ausstellung. Hinter den Abweichungen zwischen Autos und Modellen steckt Nachlässigkeit. Tim-Schöpfer Hergé / Georges Remi hielt sich anfangs nicht an alle historischen Gegebenheiten. So braust Gangster Bobby Smiles aus „Tim in Amerika“ (1931) mit einem roten Bugatti Typ 35 von 1925 herum. „Real gab es den nur in Blau“, betont Kommunikationsmanagerin Zimmermann und ergänzt: „Wir können Autos nicht extra für Ausstellungen umlackieren.“ Das wäre ja auch Frevel gewesen beim legendären Bugatti Typ 35! Der findet sich mit Originallackierung im zweiten Ausstellungssaal, flankiert von einem Ford T Baujahr 1924 à la „Tim im Kongo“ (1931) und einem 1923er Citroën 5 CV, der in „Im Reiche des Schwarzen Goldes“ (1950) auftaucht. Dort hat er allerdings eine Rückbank.
Ein eher später Lapsus: Ab 1950, als ihn viele helfende Hände in seinen Studios Hergé unterstützen, beginnt Hergé vermehrt auf Authentizität zu achten. Wie er mit seinem Team aus Ideen und Szenarios fertige, farbige Panels und Comics entwickelt, stellt der dritte Saal vor. Hier lassen sich etwa an einem Schreibtisch mehrere Schubladen ausziehen, sodass Kommentare von Hergés Mitarbeitern wie Jacques Martin, Roger Leloup und Bob De Moor erscheinen. Sie berichten von den Abläufen an ihrer Arbeitsstätte. Ein Videoclip präsentiert den großen Meister selbst: Hergé posiert für seine Zeichner, damit sie eine gewünschte Haltung besser treffen. Er finde es „viel einfacher, selbst in die Rolle der zu zeichnenden Figur zu schlüpfen, als jemandem zu erklären, welche Rolle sie einnehmen soll“, erzählt Hergé.
Zu Autos, Flugzeugen und Loks erstellen die Studios ein Recherche-Archiv, das bald mehr als 20.000 Blätter mit Fotos, Fachartikeln und Prospekten umfasst. Gemeinsam mit den Automodellen sind in den Vitrinen auch Recherchematerial, Skizzen und Druckvorlagen zu sehen. Leider nur als Reproduktionen, was den musealen Wert der Ausstellung schmälert. Ebenso verzichtet sie auf plakative Vergrößerungen der Comicseiten, von denen die Autos stammen. Im Saal zu den Studios Hergé liegt immerhin ein vergrößerter Druck des letzten Panels von „Kohle an Bord“ (1958) aus. Darauf wimmelt es von Autos. Das Tim-Abenteuer, in dem die meisten Autotypen verkehren und das als erstes in den Studios Hergé entsteht, ist „Der Fall Bienlein“. Er offenbart die neue Gründlichkeit: Am bremsenden 1950er 2 CV im Comic stimmen alle Details. Bei Neuausgaben modernisiert Hergé die Technik nun manchmal sogar. Von „Die schwarze Insel“, auf die der letzte Ausstellungssaal eingeht, existieren eine 124-seitige Schwarzweißversion (1938), eine frühe (1943) und späte (1966) 62-seitige Farbversion. Der ausgestellte Triumph Herald Britt (1967) fährt nur in der jüngsten Fassung. Extra für sie reist Hergé-Gehilfe Bob De Moor mehrere Wochen nach England, auf dass jede Fahrzeugschraube richtig sitze.
Kurz vor dem Ausgang zum endlosen Automeer, der Hauptausstellung des Museums, flimmert es hinter einem Vorhang. Dort leuchtet ein Film Hergés Leben und Werk aus. Ein anderer Nebenschauplatz widmet sich Fotos von Léonard Gianadda, der zwischen 1953 und 1961 die Welt auf den Spuren von Comicreporter Tim bereiste. Die zweite Hälfte des Raum fungiert als Tims Zimmer: ein roter Polstersessel, Beistelltischchen mit Lampe, Hundekorb und an die Wand gemalt ein Kamin mit Uhr, Bilder, ein Tischchen mir Radioapparat… Aha!? Woher die Gestaltung kommt, bleibt unklar, weil es kein Wort dazu gibt. Dennoch wächst mit der Themenvielfalt der Spaß an der Ausstellung. Sie mag für reine Comicfans zwar etwas schlank geraten sein, obwohl einige interessante Fakten zu „Tim und Struppi“ zu erkunden sind. Wen aber Tim und Technik fasziniert, dem liefert „En voiture avec Tintin“ definitiv einen schönen Anlass, das größte Automuseum der Welt mit Hunderten klassischen Karossen, Maschinenraum und Rennbahn einmal oder wieder einmal zu besuchen.
Zurück zu „Der Fall Bienlein“, in dem auch ein Citroën 11 B Traction über die Straßen fegt. Das Auto wird von 1934-1957 gebaut und ein Verkaufsschlager – nachdem es sein anfänglich schweres Image-Problem überwunden hat. Die Gestapo nutzt genau dieses Modell während der deutschen NS-Besetzung Frankreichs. Doch Hergé will den Traction im „Fall Bienlein“ haben. Wegen des zwiespältigen Rufs des Autos setzt er bewusst Finsterlinge ans Lenkrad: Geheimagenten aus dem Schurkenstaat Bordurien, einer fiktiven Mischung von Nazideutschland mit Stalins Sowjetunion. Hergé geht darüber sogar hinaus: Er lässt die ruchlosen Handlanger des Faschismus am Steuer Citroën 11 B Traction den gutmütigen Professor Bienlein entführen!
Musée National de l‘Automobile – Collection Schlumpf
17 rue de la Mertzau
Mülhausen/Mulhouse, Frankreich
Öffnungszeiten: täglich 10-18 Uhr
www.musee-automobile.fr
Jürgen Schickinger hat seine ersten Artikel über Comics im Jahr 1981 für das Fachmagazin „Comic Art“ geschrieben. Danach folgte ein Studium, das er zu einem guten Teil mit dem Verkauf von Comics auf Flohmärkten finanziert hat. Zwangsläufig wuchs dabei die eigene Sammlung. In dieser Zeit sind auch weitere Comic-Artikel von ihm in verschiedenen Fanzines und Büchern erschienen. Nebenher hat er einige Jahre im Fachhandel gejobbt. Seit 1999 betreut er für die Badische Zeitung in Freiburg als freier Autor unter anderem das Themengebiet Comics, Graphic Novels, Cartoons und verwandte Grafik.