Menschen als Farbwolken – „The Colors Within“

Der Animefilm „The Colors Within“ von Naoko Yamada lässt eine synästhetisch begabte Teenagerin einen Farbtaumel erleben. Das Publikum taumelt mit.

In Naoko Yamadas wunderschönem Anime „The Colors Within“ kommen auf ausgesprochen unaufdringliche Weise die folgenden Dinge zusammen: ein katholisches Mädcheninternat mitten in Japan, das Theremin, Synästhesie mit Farbtaumel-Bildern, ein altmodisches Buchantiquariat und eine weiße Katze darin, Märchenmotive, selbstgemachte Musik, die sich an Religion und New Wave orientiert, ein Sportunfall, Fährverkehr und zur Rockmusik tanzende Nonnen.

Im Zentrum des Ganzen: Totsuko, blonder Teenager mit Zöpfen, Internatsschülerin. Sie ist, daher der Titel des Films, synästhetisch begabt, nimmt Menschen als Farbwolken wahr, worin ihr der Film, animiert, wie er ist, in aquarellierten Farbtupferbildern folgt, ja, in die er sich zwischendurch auflöst. Totsuko bekommt beim Völkerball im Sportunterricht einen Ball an den Kopf, damit gerät ihre Welt aus den Fugen. Nicht dramatisch – nichts ist hier wirklich dramatisch –, aber es ist doch eine Verschiebung um das entscheidende Bisschen, das nach und nach zu Totsukos Selbst­ermächtigung führt.

Geworfen hat diesen Ball Kimi, und es ist, als wären die beiden fortan auf magische (oder auch romantische) Weise miteinander verbunden. Kimi bricht die Schule bald darauf ab, was sie ihrer Großmutter, bei der sie lebt, jedoch verschweigt. Eine weiße Katze führt Totsuko fast wie im Märchen auf ihre Spur. In ein verstecktes Antiquariat, in dem es neben Büchern auch Schallplatten gibt. Weshalb ein junger Mann, Rui, hier ebenfalls rumhängt. Dessen Leidenschaft ist die Musik.

Kimi jobbt in dem Antiquariat und spielt, viel ist nicht los, auf ihrer Gitarre dabei. Rui spricht sie an, Totsuko sieht die beiden als sehr schöne und reine grüne und blaue Farbwolken; da sind wir synästhetisch gerne dabei. Kurz darauf, ein paar so sanfte wie kühne Schnitte später, sind die drei eine Band. Erst nach Eiscreme, dann nach der weißen Katze benannt. Rui macht Sachen am Laptop, aber sein eigentliches Instrument ist das Theremin. Totsuko spielt Keyboard und hämmert in (Post-)Punk-Manier mit den Zeigefingern darauf herum. (Komponist Kensuke Ushio nennt die Band New Order als Vorbild.)

Das Drehbuch von Reiko Yo­shi­da – es ist ihre dritte Zusammenarbeit mit der Regisseurin Naoko Yamada – ist dramaturgisch tiefenentspannt. Das Prinzip ist die sanfte Fügung loser Elemente, nichts wird zu einem Plot zusammengedrängt. Das kommt Yamada sehr entgegen, der es weniger auf Spannung als auf die immer entspannte Intensität einzelner Bilder und Momente ankommt.

Yamada ist eine Anime-Meisterin der Mise en Scène, die oft ungewöhnliche Einstellungen wählt. Bilder, die ins Rennen und Taumeln geraten. Daneben solche, die stilllebenhaft für Momente auf Gegenständen verharren. Krasse Vertikalen gen Himmel, in die eine Hand gerade so ragt. Das Marienbild in der nach oben strebenden Kirche. Und dagegen dann immer wieder nur Füße und Beine, die Köpfe und Oberkörper abgeschnitten vom oberen Bildrand: das Zögern, das Überschlagen der Beine als sprechendes Bild.

Und vor allem: die Übergänge, ja die Übergängigkeit zwischen dem allen. Eine Coming-of-age-Erzählung, die keine festen Rahmen, sondern Verlaufsformen wählt. Eine Heldin, die nicht nur lernt, das zu ertragen, was sie nicht ändern kann, sondern auch den Mut fasst, das zu ändern, was sie selbst in die Hand nehmen kann. Film als Gelassenheitsgebet, in dem am Ende vieles zum Tanz drängt. Zuletzt ein Abschied, ein Aufbruch ins Erwachsenenleben mit bunten und fliegenden Schnipseln, aber davor hat Tatsuko unversehens beim Blick gen Himmel ihre eigene Farbe erkannt.

Diese Kritik erschien zuerst am 18.06.2025 in der taz.

The Colors Within
(Kimi no iro)
Japan 2024 – 101 Min.

Regie: Naoko Yamada – Drehbuch: Reiko Yoshida – Produktion: Eunyoung Choi, Yoshihiro Furusawa, Genki Kawamura, Kôhei Sakita – Musik: Kensuke Ushio – Verleih: Plaion Pictures/KSM Anime – Kinostart (D): 27.04.2025 – DVD-/Blu-ray-Start: 19.06.2025

Ekkehard Knörer, geboren 1971, in Würzburg, Austin (Texas) und Frankfurt (Oder) Deutsch, Englisch, Philosophie, Kulturwissenschaften studiert. Promoviert zur Theorie von Ingenium und Witz von Gracián bis Jean Paul. Von 1998 bis 2008 die Filmkritik-Website Jump Cut betrieben. Texte zu Film, Theater, Literatur für Perlentaucher, taz, Freitag, diverse andere Medien. Seit 2012 Redakteur, seit 2017 auch Mitherausgeber des Merkur. Ebenfalls Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.

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