Bis das Blut gefriert? – „Nach Mitternacht“

In ihrer Graphic Novel „Nach Mitternacht“ erzählt Gaëlle Genille eine Geistergeschichte, die mit den üblichen Modi der Angsterzeugung bricht.

Anfang der 1920er Jahre. Guerlain Drosera ist Restaurator. Gemeinsam mit seinem siebenjährigen Sohn Nisse zieht er aus London wieder in das Haus seiner Kindheit – seine Frau Daphne, eine Malerin, will später nachkommen. Die Villa ähnelt eher einem Schlösschen mit vielen Zimmern und einem großen, verwunschenen Garten. Zeit seines Lebens leidet Guerlain an Schlafstörungen. Ist Mitternacht erst einmal durch, ist mit Schlafen Essig. Eines Tages entdecken die beiden drei Krähen im Schrank, die sich seltsam verhalten: Sie wollen nicht ins Freie, begleiten Guerlain fortan auf Schritt und Tritt und lassen gerne Blumen auf ihn hinabregnen. Mit der Zeit wird Guerlan bewusst, dass es im Haus spukt. Ein Geist geht um, zumindest wenn man Nisse glauben mag, der damit auch im Gegensatz zu Guerlain überhaupt kein Problem zu haben scheint…

All das klingt natürlich nach einer veritablen Schauermär: ein Geist, ein finsteres Spukhaus, ergo düstere Schockmomente, purer Schrecken. Aber lediglich Schauermär stimmt. Denn Autorin und Zeichnerin Gaëlle Geniller stattet die Handlung von „Nach Mitternacht“ mit üppiger Optik aus, die man in diesem Genre nicht unbedingt erwartet. Prächtige Farben durchziehen die Seiten, Guerlain trägt oft opulente Gewänder, alles mit feinem Strich gezeichnet, der eher mangaesk als klassisch frankobelgisch ist. Sogar die Nachtsequenzen erscheinen kaum bedrohlich. Was zur Haltung von Nisse passt, der mit seiner kindlichen Neugier und Unvoreingenommenheit das Geisterhafte vorbehaltlos zu akzeptieren scheint, ganz im Gegensatz zu Vater Guerlain, der immer wieder das weitläufige Herrenhaus nach Übernatürlichem durchsucht und doch nichts findet.

In der zweiten Hälfte des Bandes ändert sich dann der Fokus. In einer ausführlichen Rückblende erfahren wir mehr über Guerlain. Man sieht ihn als Kind, das kaum spricht, das in ebenjenem Haus als Nesthäkchen von seinen drei älteren Schwestern aufgezogen wird (wo sind die Eltern?), und von ihnen u. a. lernt, seine Gefühle mit Blumen auszudrücken. Im dritten Plotabschnitt kristallisiert sich langsam heraus, was es mit dem Geist auf sich haben könnte. Tatsächlich ist nicht die dann doch recht schnelle Auflösung der Kern der Erzählung, sondern der Weg dorthin. Wie konnte Guerlain so vieles aus seiner Kindheit vergessen oder verdrängen? Warum landet er doch wieder hier? Was hat es mit den drei Krähen auf sich? Und natürlich mit dem vermeintlichen Geist?

Die Schauerstory, die sich in ihrer Intensität natürlich Genre-gerecht steigert, ist ganz klassisch inszeniert: Es beginnt mit seltsamen, unerklärlichen Geräuschen, dann scheint jemand diffus als Schatten durchs Bild zu huschen, Türen gehen einfach auf, das Telefon klingelt nachts. Und Nisse scheint oft mit etwas oder jemandem zu sprechen, das oder der außerhalb des Bildes bleibt, dazu die zahlreichen Familienportraits im Flur, die Guerlain und Nisse immer wieder anzustarren scheinen. Gaëlle Geniller verpackt die kunstfertigen Panels in schön choreografierte Seiten mit verspielten symmetrischen Ornamenten, was das Geschehen zusätzlich atmosphärisch unterstützt. Der ausführliche Anhang zeigt zahlreiche Skizzen und Entwürfe und dazu noch einen kleinen Epilog.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Gaëlle Geniller: Nach Mitternacht • Aus dem Französischen von Tanja Krämling • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • Hardcover • 208 Seiten • 29,80 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.