Alles kann, nichts muss – „Der Mann von der Ciguri“

Vielleicht Paris, vielleicht auch eine ähnliche Stadt. Auf jeden Fall irgendwo, irgendwann und vor allem irgendwie taucht Major Gruber (dessen Name inzwischen ein „t“ eingebüßt hat) aus einer Metro-Station auf. In der ihm fremden Umgebung stößt er in einem Buchantiquariat auf einen Wälzer, der sich schlicht „Zusammenfassung“ nennt, von einem Autor namens John Schütze, erschienen in dem „Verlag der Garage“. Ein Buch, durch das sich der Major Hinweise erhofft auf – was auch immer. Der Foliant erweist sich als Comic und zu Grubers Überraschung schildert Schütze dort genau die Geschehnisse, die gerade jetzt parallel auf dem Asteroiden, der ja bekanntlich drei Ebenen hat, passieren. Hier springt die „Handlung“ auf das Buch über und wir erleben die Jagd auf den Major, ausgehend von Präsident/Majestät/Kaiser Sper Gossi und dem anonymen Hexer Tar’Hai. Derweil macht man sich auf dem Raumschiff Ciguri, das den Asteroiden umkreist, ernste Sorgen, da der Major spurlos verschwunden ist…

Moebius (Autor und Zeichner): „Der Mann von der Ciguri“.
Splitter Verlag, Bielefeld 2019. 56 Seiten. 16 Euro

„Alles klar? Keiner hat’s kapiert.“ Dieser oft wiederkehrende Spruch samt anschließender Erkenntnis meines alten Mathe-Lehrers trifft auch genau auf dieses Werk des großen Moebius zu. Mit einem eklatanten Unterschied: Mathe ist logisch, ob man’s kapiert oder nicht. Im Gegensatz zu den Abenteuern des Majors. Logisch sollen, ja dürfen sie auch nicht sein. Wie schon in seiner „Hermetischen Garage des Jerry Cornelius“ reiht sich Episode an Episode, wobei an eine stringente Handlung nicht zu denken ist.

Moebius nimmt den Leser gerne auf die Schippe oder führt ihn mit Leichtigkeit auf einen Holzweg. Kaum will das Gehirn das Erzählte logisch zusammensetzen, wird mit oft nur einem Satz dem formbaren Gedanken der Garaus gemacht – irgendwas mit Zufallswelten, Portalen, Ebenen und interdimensionalen Schweißnähten geht immer. Folglich tauchen Figuren auf, verschwinden wieder oder treten unvermittelt ins Rampenlicht. Charaktere haben variierende und kuriose Namen und reden unverständliches Zeug. Kurz: Moebius, der als Jean Giraud gemeinsam mit Jean-Michel Charlier bekannterweise auch ein traditionelles franko-belgisches Western-Monument schuf, mit Zyklen über etliche Alben hinweg, schert sich nicht um Erzählstrukturen, stößt nach zwei Seiten alles um und spielt dabei mit fantastischen Realitäten.

Ist das denn gut? Zumindest anders, und im Vergleich zu dem Vorgänger – ebenjener „Hermetischen Garage“, die im Original ab 1976 erschien (und im Volksverlag 1983 auf Deutsch als Album, damals nicht hermetisch, sondern luftdicht) – doch noch durchgehender, oder zumindest deutbarer. Die Episoden des Mannes von der Ciguri entstanden über vier Jahre, sind durchgehend farbig und bestechen in ihrer Darstellung. Klare Linien, oft gewaltige, abstrakte Panels mit irrealen Konstrukten und wunderbare flächige Farben zeugen von einer grenzenlosen Fantasie, die – wie es scheint – Moebius immer wieder einzufangen musste, ehe der Major ihn wild zur nächsten Episode weitertrieb. Und gegen Ende hat auch Jerry Cornelius, eine von Autor Michael Moorcock entlehnte Figur (samt Pickelhaube) noch einen Auftritt. Das Album erschien zuletzt bei Cross Cult und davor erstmals 1996 bei Feest. Moebius‘ letztes Werk, in dem er sich mit Arzak einer weiteren ikonischen Figur seines Universums widmete, veröffentlichte Ehapa 2012, dem Jahr seines Todes. Aktuell erscheint auch dort eine neue „Blueberry“-Gesamtausgabe. Und ich gestehe freimütig: Trotz des Majors von Moebius schlug ich mich stets lieber auf die Seite von Jean Giraud und seinem Leutnant.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Der Mann von der Ciguri“ (Splitter Verlag)