Sommer 1997: Christophe André ist noch nicht lange im Nordkaukasus stationiert, als er mitten in der Nacht von tschetschenischen Separatisten entführt wird. Für den jungen Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ beginnt damit eine qualvolle Zeit der Ungewissheit. Was sind die Beweggründe seiner Geiselnehmer? Wissen seine Kollegen von der Gefangennahme? Was unternehmen sie für seine Freilassung? Wie geht seine Familie mit der Tat um? Tage vergehen, schließlich Wochen, in denen André nur die Hoffnung am Leben hält. Am Ende sind es mehr als drei Monate, die er in Geiselhaft verbringen wird.
Die Geschichte von „Geisel“ ist schnell umrissen – und doch benötigt Guy Delisle beeindruckende 432 Seiten, um sie zu erzählen. Dabei beherrscht die trostlose Szenerie auf dem Buchcover den Inhalt: André, der auf einer Matratze liegend in einem kargen Zimmer festgehalten wird – nicht gerade ein Zustand, der eine abendfüllende Lektüre vermuten lässt. Blau- und Brauntöne ergänzen Delisles Strich, der ein wenig detaillierter als in seinen bisherigen Werken daherkommt.
Trotz der ruhigen Erzählweise wird mit sparsamen Mittel eine Spannung aufgebaut, die bis zum erlösenden Finale anhält. Echter Dialog findet dabei nur selten statt, viele Off-Texte unterstützen stattdessen den Bericht. Sie geben die Gedanken des Protagonisten wieder, ein Mittel, das Delisle häufig auch in seinen bisher erschienenen Comicreportagen verwendet. So lässt er den Leser die qualvolle Trostlosigkeit der ausweglosen Situation spüren – ebenso wie die Hoffnung auf Erlösung.
Guy Delisle erzählt mit „Geisel“ das erste Mal keine autobiografische Geschichte. Der Kanadier hat aufgeschrieben, was seinem Freund Christophe André am Anfang seiner Karriere passiert ist. Dennoch blitzt Delisles typische Erzählweise auch in seinem bislang umfangreichsten Werk durch: Indem er in gewohnter Art die Situation beschreibt, ohne sie direkt zu benennen – wenn diesmal auch mit wesentlich weniger Anlässen zum Schmunzeln. „Geisel“ ist vor allem auf den ersten Seiten alles andere als Feel Good-Lektüre, entwickelt sich aber zu einem packenden Bericht, den Delisle gelungen als Comicreportage umgesetzt hat.
Ein Gespräch mit Guy Delisle findet sich hier.
Guy Delisle: Geisel. Reprodukt, Berlin 2017. 432 Seiten, € 29,00