Pünktlich zum 100. Todestag von Frank Kafka sind mehrere neue Comics über den Prager Schriftsteller erschienen. Viele von ihnen untersuchen Kafkas Werk nach autobiographischen Motiven – mal mehr, mal weniger gelungen.
Mit den Worten „Liebster Max, meine letzte Bitte“ hat Franz Kafka in seinem Testament Max Brod damit beauftragt, „alles was sich in meinem Nachlass an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere haben.“ Bekanntlich hat der lebenslange Freund Kafkas dessen letzten Wunsch nicht erfüllt und bereits 1925, ein Jahr nach Kafkas Tod, mit der Veröffentlichung der Romanfragmente und anderer Werke aus dem Nachlass begonnen.
Am 15. März 1939, einen Tag vor der deutschen Besetzung Prags, floh Brod zusammen mit seiner Frau aus dem Land und emigrierte ins damalige Palästina, wo er bis an sein Lebensende blieb – er starb 1968 in Tel Aviv. Den Nachlass Kafkas hinterließ er seiner ehemaligen Sekretärin und Lebensgefährtin Ilse Ester Hoffe mit der Auflage, ihn der Forschung zur Verfügung zu stellen; es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen der israelischen Nationalbibliothek und Hoffe wie auch ihren Nachkommen, der erst 2019 beendet wurde. Und dies mit einer Sensation: In einem Banksafe in Zürich lagen nicht nur die Manuskripte und Briefe Kafkas, die nach Jerusalem überführt wurden, sondern auch ein zwischen 1901 und 1907 entstandenes Zeichnungsheft sowie weitere Skizzen auf Blättern, Papierausschnitten, Zetteln und am Rand von handschriftlichen Manuskripten. Kafkas war nicht mehr lediglich Autor, sondern auch Zeichner. Einige wenige Skizzen hatte Brod für die Cover von Kafka-Ausgaben verwendet, doch der Großteil der über 150 Zeichnungen war bislang unbekannt gewesen.
In einem Buch mit allen Skizzen und Kritzeleien konnte Franz Kafka 2021 als Zeichner neu entdeckt werden und in der Tat sind die Zeichnungen mehr als nur Nebenprodukte, sondern vielmehr Ergänzungen zum literarischen Werk. Im Buch „Franz Kafka. Die Zeichnungen“ wird auch ein Brief zitiert, den er 1913 an seine damalige Verlobte Felice Bauer geschrieben hat. „Wie gefällt dir mein Zeichnen? Du, ich war mal ein ganz großer Zeichner“, schrieb er dort. „Ich werde Dir nächstens ein paar Zeichnungen schicken, damit Du etwas zum Lachen hast.“
Dieses Zitat hat Nicolas Mahler in „Komplett Kafka“, seiner Comic-Hommage zum 100. Todestag des 1924 an Tuberkulose verstorbenen Prager Autoren, ebenfalls aufgegriffen. Schon beim ersten Blättern fällt auf, dass Mahler diesmal ganz anders vorgegangen ist, als bei seinen sonstigen Beschäftigungen mit der Literaturgeschichte. Während er in seiner Adaption von „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust oder Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ die Zeichnungen in den Mittelpunkt rückt und die Textmassen auf das Wesentliche reduziert, funktioniert seine Kafka-Lektüre genau andersherum: Der Text rückt in den Mittelpunkt, weniger die Zeichnungen. Von Mahler kompilierte Textauszüge dominieren die Seiten, und wie bei Kafka selbst wirken die Zeichnungen eher wie Beiwerk. Aber – wie eben auch bei Kafka – essentielles Beiwerk, das den Text in ein anderes Licht rückt.
Der Titel „Komplett Kafka“ verspricht nicht zu viel, hat man nach der Lektüre doch alle zentralen Facetten des Autors wie auch die wichtigsten Texte zumindest gestreift. Mahler hat vor allem den versteckten Witz des häufig als düster und unzugänglich bezeichneten Kafka ins Zentrum gerückt: Zwischen Verzweiflung und Selbstironie pendelnde Briefe und Tagebücher werden angeführt, jüdischer Witz und absurde Geschäftsideen abgebildet: So hatte Kafka etwa einmal vor, eine Reihe von Reiseführern zu verfassen. Trotz der Verzweiflung und Absurdität, die vielen Gedanken und Texten Kafkas anhaftet, wird er hier nicht vorgeführt, sondern von Mahler liebevoll an die Hand genommen und durch sein Leben begleitet. Auch traut sich Nicolas Mahler, in die Texte einzugreifen, sie zu kommentieren und weiterzudenken. So führt er beispielsweise den Vater Hermann Kafka als Schöpfung des Prager Rabbi Löw ein, der der Legende nach den berühmten Golem formte. Und auch Franz Kafka selbst ist im Comic von Mahler ein aus einem traurigen, vertrockneten Klümpchen Lehm aus Mitleid erschaffenes Wesen: „Ach Rabbi, hättest du doch das traurige Klümpchen nicht belebt. Wieviel Ängste, Schmerz und Zaudereien wären dem kleinen Wesen erspart geblieben.“ Dass die Zeichnungen von Mahler ohnehin an die düsteren Strichmännchen des Autors erinnern, die man von den Buchcovern kennt, ist zwar Zufall, lässt die beiden aber noch stärker als Geistesverwandte in Humor und Reduktion erscheinen. „Komplett Kafka“ sei Kafka-Kennern ebenso empfohlen wie Neulingen, es ist der vermutlich beste Comic über den Autor, den das diesjährige Jubiläum hervorgebracht hat.
Die Zugänge der verschiedenen Kafka-Comics ähneln sich, die meisten versuchen, wie auch Nicolas Mahler, Leben und Werk Kafkas miteinander zu verknüpfen und Parallelen aufzuzeigen – mal mehr, mal weniger gelungen. „Verwandelt. Franz Kafka – Leben, Lieben, Literatur“ von Thomas Dahms und Alexander Pavlenko hätte beispielsweise interessant werden könne. Pavlenko hat vor einigen Jahren eine lesenswerte Comicbiographie über Theodor Herzl veröffentlicht, ist also mit dem Thema des osteuropäischen Judentums zur Jahrhundertwende sehr gut vertraut. Doch leider kratzt „Verwandelt“ nur an der Oberfläche von Kafkas „Leben, Lieben und Literatur“ und bricht immer wieder ab, wenn es interessant werden könnte, etwa dann, wenn Kafka auf Rudolf Steiner trifft, der immer wieder mal mit antisemitischen Passagen in seinen Schriften aufgefallen war, und mit ihm über die „Judenfrage“ und den Zionismus diskutiert, der Comic aber weder den Inhalt der Debatte noch den Kontext des Interesses von Rudolf Steiner am Judentum erläutert; oder wenn am Ende von Kafkas Besuch beim elften Zionistenkongress unter Vorsitz von David Wollfsohn in Wien 1913 nur die Erkenntnis des Schriftstellers bleibt: „Ich werde Hebräisch lernen.“
Hebräisch hat er zwar nie gelernt, sich jedoch mit der jiddischen Sprache beschäftigt, aber auch dafür interessiert sich „Verwandelt“ nur am Rande. Die dezent in warme Farben getauchten Zeichnungen konzentrieren sich am stärksten auf den Aspekt der Liebe im Leben Kafkas, gerahmt wird der Comic von einer rückblickenden Erzählung von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant in London kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei legen die Autoren den Figuren Dialoge in den Mund, die sehr weit von der literarischen Qualität ihres Protagonisten entfernt sind. „Manchmal gehen die Pferde mir durch“, sagt etwa Felice Bauer, mit der Kafka zweimal verlobt war. „Wenn du deine Pferde im Zaum halten kannst, haben wir eine Chance“, antwortet er. „Irgendwie kafkaesk: surreal und intensiv zugleich“ sei sein Leben gewesen, stellt die Gesprächspartnerin von Dora Diamant in London dann zum Abschluss auch noch das stärkste Klischee des Autoren in den Raum.
Ganz anders dagegen die schon 1993 erstmals erschienene und nun zur Jährung des Todestags neu aufgelegte Kafka-Biographie von Robert Crumb und David Zane Mairowitz. Hier fällt das Wort „kafkaesk“ bereits auf der fünften Seite, allerdings sieht man gleichzeitig den Autor, die Hände über die Ohren haltend und mit entsetztem Gesichtsausdruck aus der Szene fliehen, in der er zu einem Adjektiv gemacht wird. Der Texter Mairowitz und der Zeichner Crumb hegen große Sympathien für den Außenseiter Kafka und verknüpfen in dem schlicht „Kafka“ betitelten Werk hervorragend biographische Facetten mit Aspekten des Werkes, ohne dabei eine rein autobiographische Lesart der Texte vorzuschlagen. Sie bieten unterschiedliche Zugänge an, etwa über die jüdische Kultur von Prag, die sie als ebenso prägend für den Autor ansehen wie den Antisemitismus, dem er ausgesetzt war: „Franz Kafka wurde nie auf der Straße belästigt oder verprügelt, weil er Jude war oder wie einer aussah. Wie alle assimilierten Juden musste er sich aber an ein gewisses Maß ‚gesunden‘ Antisemitismus ‚assimilieren‘. Die meisten Juden jener Zeit (oder jeder anderen) verinnerlichten die tägliche antisemitische Bedrohung und richteten sie schließlich gegen sich selbst. Kafka war keine Ausnahme, was den jüdischen Selbsthass betrifft…“
Hier wird einerseits deutlich, dass die Biographie für einen Comic sehr textlastig ist, anders als Nicolas Mahlers Kafka-Buch sich selbst weniger als eigenständiges künstlerisches Werk versteht, sondern tatsächlich als klassische, faktenorientierte Biographie, nur eben bestehend aus Text und Bild. Andererseits zeigt das Zitat, wie differenziert die beiden Autoren vorgegangen sind in der Annäherung an Kafka: Stets versuchen sie, gesellschaftliche Strukturen, zeithistorische Umstände, die Geographie und Kultur Prags und biographische Facetten des Autors zusammenzudenken. Robert Crumbs schwarzweißer Undergroundcomic-Stil passt sich dabei hervorragend dem Leben und Werk Kafkas an, insbesondere die Umsetzung von Auszügen einzelner Erzählungen und Romane fügen dem literarischen Werk neue Facetten hinzu. Der Texter Mairowitz versucht darüber hinaus, auch unbekannte Aspekte des Lebens mit in das Buch einzuflechten, etwa den Traum von Kafka und seiner letzten Freundin Dora Diamant, die einer orthodoxen jüdischen Familie entstammte, nach Tel Aviv zu ziehen und dort ein jüdisches Restaurant aufzumachen, wo „Dora kochen und Kafka – jawohl – kellnern wollte!“
Ganz anders geht der kroatische Künstler und Comiczeichner Danijel Žeželj vor. „‚Wie ein Hund!‘, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ So lautet der letzte Satz des Protagonisten Josef K. in Franz Kafkas unvollendetem und erst postum veröffentlichten Roman „Der Prozess“. Er stirbt durch einen Messerstich ins Herz, nach einem langen Prozess, während dem er niemals erfährt, wessen er beschuldigt wird. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben“, so der berühmte erste Satz des Romans. Unzählige Interpretationen dieses Satzes, des Romans und des restlichen Werkes von Kafka sind in den letzten hundert Jahren erschienen, seine Texte haben Spuren in Film, Literatur und Kunst hinterlassen, wurden zitiert, adaptiert und illustriert. „Wie ein Hund“ von Žeželj greift den letzten Satz aus dem „Prozess“ im Titel auf, wobei er im Buch unterschiedliche Texte Kafkas collagiert und zu einem Comic verwoben hat.
Die 1922 erschienene Kurzgeschichte „Ein Hungerkünstler“ bildet dabei den roten Faden, in der das Leben, Leiden und Scheitern als Künstler heraufbeschworen wird, daneben zitiert Žeželj aus den Tagebüchern von Kafka, aus Kurztexten sowie eben aus dem Roman „Der Prozess“. Die an Linol- oder Holzschnitte erinnernden Zeichnungen in starken Schwarzweißkontrasten nähern sich den Texten eher assoziativ als narrativ an, vielmehr erwecken die Bilder und Textfragmente den Anschein, als solle die Verwirrung und Überforderung des Protagonisten Josef K. im „Prozess“ an die Leser weitergegeben werden. Gepaart wird dieser Ansatz mit Zitaten aus vermeintlich „kafkaesken“ Filmen, auf Kubricks „Clockwork Orange“ finden sich ebenso Anspielungen wie auf „Inland Empire“ von David Lynch.
Und genau hier liegt der Kern des Problems von „Wie ein Hund“: Während die Kämpfe von Kafkas Protagonisten sich meist in deren Innerem abspielen – die Abgründe und Zweifel im Selbst, die auf eine Gesellschaft mit sehr konkreten Erwartungen an das Individuum treffen -, so wird bei Žeželj die Perspektive umgedreht: Das Außen ist gewalttätig, der Realität enthoben und voller Abgründe, das Individuum dagegen scheint ein Ruhepunkt im Chaos zu sein. Dass die Gesellschaft in Kafkas Werk als ebenfalls beschädigt gezeichnet wird, ist durchaus richtig, doch interessiert er sich vor allem für das Verhältnis des Einzelnen zur Umwelt und das Scheitern des Einzelnen an dieser Umwelt. Žeželj streicht in seiner Kafka-Interpretation alle Zwischentöne, die zwischen Innen und Außen vermitteln und Kafkas Werk in einer gesellschaftlichen Realität verorten. „Wie ein Hund“ kennt keine (Selbst-)Ironie, keine jüdische Kultur, kein Verzweifeln an der Bürokratie und auch keine Slapstickelemente, die sich in Kafkas Texten immer wieder finden. Es bleibt eine schwarzweiße Dystopie, die zwar interessant anzuschauen ist, aber wenig Neues über den Autor zu erzählen weiß.
Wenn schon Adaption, dann lieber jene aus dem „Lustigen Taschenbuch“, in der Ausgabe 137 von 1992, in der Nino Russo und Andrea Frecerro sich der „Verwandlung“, der bekanntesten Erzählung Kafkas, angenommen und in die Welt der Familie Duck versetzt haben. „Die Verwandlung des Gregor Ducksa“ heißt das Werk, in dem Donald eines Morgens verwandelt erwacht und unter seinem tyrannischen Onkel und Arbeitgeber zu leiden hat. Im Gegensatz zu Žeželjs Adaption nimmt sich die Erzählung selbst nicht allzu ernst, traut sich aber gleichzeitig mehr, wenn sie die Grundidee Kafkas einfach weiterschreibt – und sie hat im Gegensatz zu Kafkas Leben und Werk sogar ein Happy End.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 18/2024
Nicolas Mahler: Komplett Kafka • Suhrkamp, Berlin 2023 • 127 Seiten • Softcover • 18,00 Euro
Alexander Pavlenko (Zeichner), Thomas Dahms (Autor): Verwandelt. Franz Kafka – Leben Lieben Literatur • Knesebeck, München 2024 • 128 Seiten • Hardcover • 24,00 Euro
Robert Crumb (Zeichner), David Zane Mairowitz (Autor): Kafka • Reprodukt, Berlin 2024 • 176 Seiten • Taschenbuch • 9,90 Euro
Danijel Zezelj: Wie ein Hund • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 104 Seiten • Softcover • 22,00 Euro
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt ist von ihm die Textsammlung „Nach Strich und Rahmen“ erschienen.