Sven Jachmann: In den letzten 25 Jahren hat sich auf dem deutschen Comicmarkt einiges getan: der Heftchen-Boom und das Manga-Phänomen in den 90ern, die stetige Popularisierung der Graphic Novel in den 00er Jahren, auch die mediale Berichterstattung hat in den letzten zehn Jahren enorm zugenommen. Welche Veränderungen waren für die Entwicklung Reprodukts entscheidend?
Dirk Rehm: Entscheidend für das Wachstum von Reprodukt war, dass sich durch das neue Labeling als „Graphic Novels“ der Buchhandel für Comics wieder geöffnet hat, nachdem man sich dort lange mit der Präsentation und dem Verkauf von Comics schwer getan hatte. Über diesen Umweg hat der Comic Stück für Stück Platz im Handel zurückerobert und durch die Präsenz in Buchläden zunächst mal überhaupt erst eine Chance, ein interessiertes Publikum zu erreichen. Aber natürlich war und ist das Interesse sowie die Berichterstattung der Medien unerlässlich für den Erfolg der Graphic Novel.
Gab es Veröffentlichungen, die du heute bereust oder sie mit der gegenwärtigen Kenntnis anders angehen würdest?
Viele Veröffentlichungen würden anders aussehen, wenn sie heute erscheinen würden. Die Comichefte, die wir Mitte der Neunziger gemacht haben, waren ein Kind ihrer Zeit, der Markt war einfach ein anderer. Heute würden die Themen, die Markus Golschinski in der Heftreihe „KRM KRM“ bearbeitet hat, sicher sinnvoller im Buchformat publiziert werden. Der Markt hat sich in den vergangenen 25 Jahren sehr gewandelt; insofern hatten die meisten verlegerischen Entscheidungen schon ihre Berechtigung, wenn man auf die ursprünglichen Umstände während der Entstehung zurückschaut.
Der schwerwiegendste Fehler in jüngster Zeit war ein Nachdruck von „Jimmy Corrigan“. Nachdem die erste Auflage, begleitet von sehr viel Medieninteresse, sehr gut verkauft wurde und so gut wie vergriffen war, haben wir eine relativ hohe Nachauflage gedruckt. Und mussten dann feststellen, dass die Nachfrage auf einen Schlag erlahmt ist – was zu der Entscheidung geführt hat, die zweite Auflage beinah komplett einzustampfen. Ein herber finanzieller, aber auch ideeller Verlust, denn wir haben sehr viel Zeit, Geld und Energie in „Jimmy Corrigan“ investiert. Aber wir haben daraus natürlich auch für zukünftige Projekte eine Menge gelernt, was die Einschätzung unseres Publikums angeht…
Graphic Novels sind längst keine Domäne der spezialisierten Fachverlage mehr, sondern erscheinen mal mehr, mal weniger regelmäßig ebenfalls bei Literaturverlagen wie Suhrkamp, Jacoby & Stuart, Kiepenheuer & Witsch, Fischer, Rowohlt oder Knaus. Ist die gewachsene Konkurrenz bei der eigenen Programmgestaltung zu spüren?
Es hängt davon ab, was Lizenzgeber oder Autoren möchten. Wenn es ihnen vor allem ums Geld geht, können wir selbstverständlich nicht mit dem Angebot eines Konzerns wie Bertelsmann konkurrieren, die uns zum Beispiel bei „Der Araber von morgen“ von Riad Sattouf überboten haben. Auch KiWi oder S. Fischer Verlag, die beide zur Holtzbrinck Gruppe gehören, arbeiten mit ganz anderen Auflagen und Budgets; da ist es für uns sinnlos, in Konkurrenz gehen zu wollen. Anders verhält es sich natürlich mit unabhängigen Literaturverlagen wie Jacoby & Stuart, Voland & Quist, dem Verbrecher Verlag oder dem Mairisch Verlag, mit denen wir seit Jahren in Austausch stehen. Hier sehen wir die Programmarbeit in Sachen Comics eher als gegenseitige Stärkung und Ergänzung. So beschäftigen etwa seit einigen Jahren Jacoby & Stuart und Reprodukt die selben Vertreter, die unsere Comics im Handel anbieten. Da sind die Literaturadaptionen, die sich im Programm von Jacoby & Stuart finden, oftmals ein guter Einstieg ins Gespräch, weil der Buchhändler mit Titel und Themen schon vertraut ist.
Schwierig an dem gestiegenen Interesse von Verlagen wie Fischer oder Knaus, die Bücher wie „Katharsis“ oder „Der Araber von morgen“ mehr aus Imagegründen denn aus finanziellen Motiven ins Programm nehmen, ist die Tatsache, dass die Anzahl der auf dem deutschen Markt möglicherweise erfolgreichen Lizenzproduktionen durch den Zugriff der Literaturverlage nicht nur für uns, sondern sogar für einen Verlag wie Carlsen, der zur Bonnier Gruppe gehört, auf ein Minimum schwindet.
Letztlich bleiben uns in dieser Situation vor allem zwei Chancen: Zum einen die Hoffnung, dass ein ausländischer Autor, mit dem wir schon lange vertrauensvoll zusammen arbeiten, einen international erfolgreichen Titel lanciert – wie es etwa Guy Delisle oder Craig Thompson getan haben. Zum anderen die eigenen deutschen Autoren anzustiften, Bestseller zu schreiben und zu zeichnen.
Reprodukt ist dank jahrelanger Presse- und Überzeugungsarbeit im Buchhandel und im Feuilleton sehr präsent geworden, auch das Team ist über die Jahre gewachsen. Lassen sich heute Veröffentlichungen und Programmentscheidungen souveräner kalkulieren?
Leider nein: Deutschland ist nach wie vor Comic-Entwicklungsland. Es gibt ein größeres Publikum für Comics mit historischer, kultureller oder politischer Relevanz wie „Kinderland“ von Mawil, „Irmina“ von Barbara Yelin oder die Reiseberichte von Guy Delisle – aber das sind Ausnahmen, auch in unserem Programm. Für Comics, die die Möglichkeiten des Mediums ausloten oder auch einfach nur unterhalten möchten, ohne ein vermeintlich relevantes Thema zu verkaufen, gilt nach wie vor, dass sie nur das an Comics interessierte Publikum erreichen. Das sind hierzulande 2.000 bis 3.000 Leser. Und eine Auflage von 2.000 Exemplaren lässt sich leider nicht souverän kalkulieren. Für den Verlag bleibt nach Deckung der Produktionskosten kaum etwas übrig. Für uns bleibt es ein mühsames Geschäft, daran hat sich trotz vereinzelter Erfolge nichts geändert.
2013 habt ihr außerdem eine Sparte mit Kindercomics eingeführt, und Serien wie „Kiste“, „Ariol“ oder „Kleiner Strubbel“ entwickeln sich sehr gut. Interessanterweise findet man diese Titel oftmals nicht in der Comic-, sondern in der Kinderbuchabteilung der Buchhandlungen. Gibt es Unterschiede bei der Vermarktung von Kindercomics im Vergleich zu den „erwachsenen“ Titeln?
Freut mich sehr zu hören, dass du unsere Kindercomics in der Kinderbuchabteilung gesichtet hast, denn genau dort sollen sie auch zu finden sein! Wir verstehen unsere Kindercomics als durchaus gleichwertig mit Kinderbüchern. „Kiste“ etwa ist in der Nachbarschaft von „Pippi Langstrumpf“ sicher gut aufgehoben. Genau wie mit den „Graphic Novels“, die wir gern in der Belletristik-Abteilung der Buchhandlungen sehen, möchten wir auch mit den Kindercomics raus aus dem „Comic-Ghetto“. In der Comicabteilung suchen die meisten Eltern und Verwandten sicher nicht nach Büchern für ihre Kinder. In der Kinderbuchabteilung hingegen erreichen wir ein potenziell interessiertes Lesepublikum, das gar nicht groß genug sein kann.
Die Vermarktung der Kindercomics erfolgt über Verlagsvorschauen und Vertreterbesuche in den Kinderbuchhandlungen, also zunächst mal gar nicht unbedingt anders als bei unserem erwachsenen Programm. Zunehmend zeigen allerdings Bibliotheken Interesse an unseren Kindercomics, was sicherlich zu mehr Mundpropaganda geführt hat. Außerdem können wir von einigen unserer Autoren Lesungen und Workshops für Kinder anbieten. Anke Kuhl hat im vergangenen Jahr „Lehmriese lebt!“ auf diversen Kinderbuchfestivals vorgestellt und „Simpsons“-Übersetzer und Entertainer Matthias Wieland ist mit „Mumins“- und „Kiste“-Lesungen ständig und überall in der Republik unterwegs.
Reprodukt hatte schon immer viele deutsche ZeichnerInnen im Programm, große Erfolge aus der jüngsten Zeit waren etwa „Kinderland“ von Mawil, „Irmina“ von Barbara Yelin oder Lukas Jüligers fantastisches Debüt „Vakuum“. Zum 25. wurde außerdem eine von Aisha Franz und Sascha Hommer kuratierte Reihe angekündigt, in der zukünftig neue deutsche Talente in schmalen Bänden veröffentlicht werden. Das erinnert an den Indie-Spirit der frühen Tage und bietet eine ideale Plattform, um auch sperrigere Werke zu testen. Die Zusammenarbeit mit und Förderung von hiesigen KünstlerInnen scheint seit den Anfängen einen sehr großen Stellenwert zu besitzen?
Aus mehreren Gründen: Zunächst macht die Zusammenarbeit mit hiesigen KünstlerInnen ganz einfach mehr Spaß als die reine Übertragung von Lizenzprodukten in die deutsche Sprache. Es gibt einen Austausch über den kreativen Prozess bis zum fertigen Buch, Diskussionen zur Gestaltung desselben sowie gemeinsame Überlegungen zu Marketing, Buchpräsentationen und Lesereisen… Die Arbeit ist für alle Beteiligten vielfältiger und spannender. Natürlich auch motivierend, wenn das Buch dann so ein Erfolg wird wie zuletzt Mawils „Kinderland“ oder Barbara Yelins „Irmina“. Jeder Verantwortungsbereich des Verlags steht dann im Austausch mit dem Autor. Das gilt für den Redakteur, der das Buch mit dem Autor entwickelt, über die Presseabteilung, die Autor und Buch vermarktet, sowie für den Vertrieb, der zusammen mit dem Autor den besten Weg sucht, das Buch im Handel zu platzieren, und der auch für Lesungen oder Signieraktionen im Handel erster Ansprechpartner ist.
Außerdem glaube ich, dass man ein größeres Publikum vor allem mit Comics von deutschen ZeichnerInnen erreichen kann. Junge ZeichnerInnen lernen mittlerweile bei anerkannten Größen der internationalen Comicszene wie Anke Feuchtenberger, Henning Wagenbreth oder Martin tom Dieck das Erzählen in Bildern. Und mit Birgit Weyhe, Aisha Franz oder Sascha Hommer beginnt gerade die nächste Generation, an den Hochschulen zu lehren. Wer hierzulande aufwächst, kann am ehesten Beobachtungen über unsere Gesellschaft machen und Aussagen treffen, die hier von Interesse sind – auch und gerade in Form eines Comics. Insofern denke ich, dass Comics erst dann ihre Kraft entfalten können, wenn sie hierzulande in den gesellschaftlichen Diskurs eingreifen. In Frankreich etwa steuern Comiczeichner – und nicht erst seit Riad Sattouf oder Joann Sfar – mit Comics und Kommentaren im „Nouvel Observateur“, „Libération“, „Le Monde“ oder „Nouvel Observateur“ wichtige Stimmen zum Tagesgeschehen bei.