Michel Plessix (1959 – 2017)

Bild aus "Wind in den Weiden" (Toonfish)

Als meine Tochter noch im Vorlesealter war, bestand unsere gemeinsame Lektüre nicht selten aus „Der Wind in den Weiden“, dem Kinderbuch-Klassiker von Kenneth Grahame. Aber nicht dem Roman selbst, sondern dessen Comic-Adaption von Michel Plessix, welche gerade im Carlsen Verlag erschien. Und das in viel zu langen Abständen, zumindest was die Geduld meiner Tochter betraf. Der „Wind in den Weiden“ umfasste im Original vier Bände. Vier von fünfzehn Alben, die Michel Plessix im Laufe seiner Karriere zeichnete. Leider wird keines mehr dazu kommen, denn Plessix ist am 21. August mit nur 57 Jahren überraschend verstorben.

Der Franzose wurde 1959 im bretonischen Saint-Malo geboren. Die ersten Schritte im Comic-Metier machte er in den achtziger Jahren. 1988 erschien das erste Album, für das er komplett als Zeichner verantwortlich war: „Die Göttin mit den Jade-Augen“ (ein Einzelband, der auf Deutsch 1993 auch bei Carlsen veröffentlicht wurde). Autor des Bandes ist Dieter (d.i. Didier Teste), mit dem er auch „Julian B.“, seine erste Serie, realisierte. Im Original heißt die vierbändige Reihe „Julien Boisvert“. Ihre Titelfigur ist ein junger Reporter, der in der Ferne seine Abenteuer erlebt und dabei erwachsen wird. Eine Gesamtausgabe (bei Ehapa erschienen seinerzeit nur drei Alben) brachte 2014 der Splitter Verlag in seinem toonfish-Label heraus. Nach dem Abschluss der Reihe begann Plessix mit dem Werk, mit dem man ihm immer verbinden wird: „Der Wind in den Weiden“, vier Bände in sechs Jahren, von 1996 bis 2001. Hier etablierte er sich nicht nur als filigran-Künstler, der seine Panels bis in den letzten Winkel mit liebenswerten Details ausstattete, auch als Autor traf er die Atmosphäre der Romanvorlage frontal und glänzte mit seinen anthropomorphen Figuren und deren humanistischer Grundeinstellung. Heimlicher Star war dabei stets die Natur, die in feinsten Aquarellfarben hauchzart und gefühlvoll die Geschichte(n) von Ratte, Maulwurf, Dachs und dem impulsiven Kröterich einbettete.

Die Comic-Adaption war nicht nur erfolgreich und wurde in 15 Sprachen übersetzt, sondern auch mit etlichen Auszeichnungen bedacht, darunter im Jahr 2000 den Publikumspreis des Festivals in Angoulême und im gleichen Jahr den Max-und-Moritz Preis des Comicsalons in Erlangen. Zwei Jahre später war Michel Plessix auch in Erlangen zu Gast und signierte dort seine Alben. Offenbar ließen ihn Kenneth Grahames Figuren nicht los und so gestaltete er nach einer längeren Pause weitere Abenteuer jenseits des Romans mit ihnen. Er schickte sie ab 2005 in „Der Wind in den Dünen“ in ganz andere Gefilde: einmal mehr Hals über Kopf zieht es den Kröterich in die Ferne. Im Alleingang reist er in den Orient, gefolgt von seinen besorgten Freunden Ratte und Maulwurf. Dort lernen sie eine fremde Kultur kennen, neue Landschaften – von Plessix ebenso virtuos inszeniert – und suchen einen Schatz, um die Heimreise finanzieren zu können. Auch hier nimmt Plessix die Merkmale von „Der Wind in den Weiden“ auf, nimmt sich Zeit für seine Charaktere und lässt die Bilder in orientalischer Poesie wirken, warmherzig und liebevoll, wenngleich der Erzählfluss insgesamt etwas holpriger erscheint. Beide Reihen erschienen als Gesamtausgaben ebenfalls bei Splitter/toonfish, „Der Wind in den Dünen“ erstmals auf Deutsch.

Gelegentlich legte Plessix den Zeichenstift beiseite und betätigte sich „nur“ als Autor für andere. So schrieb er für Loic Jouannigot zwei Alben für dessen Reihe „La Famille Passiflore“, von der bei Salleck Publications der erste Band als „Die Häschenbande“ vorliegt. Sein nun letztes Werk, in dem es Michel Plessix wieder in den Orient verschlug, zeichnete er nach einem Script von Frank Le Gall. Das Album erschien 2016 bei Casterman, heißt „Là où vont les fourmis“ und harrt noch einer deutschen Veröffentlichung. Plessix starb in seiner Geburtsstadt Saint-Malo, dort, wo er im letzten Jahr beim Festival „Quai des Bulles“ einmal mehr ausgezeichnet wurde, an einem Herzinfarkt. Mit ihm verliert die Comicwelt einen Künstler, mit einem unvergleichlichen filigranen, detailverliebten Zeichenstil, dessen Werke Jung und Alt gleichermaßen ansprachen und begeisterten. Und es noch immer tun. Meine Tochter und ich waren und sind ein bestes Beispiel dafür.

Die Widmung entstand 2002 in Erlangen im Rahmen des Comic-Salons