„Er fängt nicht einfach nur Bilder ein, er erschafft sie, um eine Geschichte zu erzählen“

Druckfrisch erschienen ist der erste Band der zweibändigen Comicbiografie „Alfred Hitchcock – Der Mann aus London“. Der französische Filmemacher, Cahiers du cinéma-Autor und Filmhistoriker Noël Simsolo, der seit Jahrzehnten zu Hitchcock geforscht und veröffentlicht hat, erzählt das Leben des legendären Regisseurs im Stile von Orson Welles‘ „Citizen Kane“: in einem präzisen, aber assoziativen Stil, der quer durch die Jahrzehnte seines Schaffens springt und eher Motiven und seinem psychologischem Unterbau folgt als bloßen Fakten und Jahreszahlen. Band 1 fängt die Jahre bis 1939 ein, von Hitchcocks ersten Schritten im Filmgeschäft, seinem Durchbruch in der Stummfilmzeit bis zu seiner Übersiedlung nach Amerika am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Band 2 ist für Spätherbst 2021 geplant. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Splitter Verlags.

Lieber Noël, Sie arbeiten schon viele Jahre als Autor, Regisseur, Historiker und Kritiker in der Filmindustrie, schreiben aber auch seit einigen Jahren erfolgreich Szenarios für Comics. Wie sind Sie zum Comicschreiben gekommen?

Ich habe schon immer Comics geliebt. Als Kind habe ich mit Comics das Lesen gelernt. Das ist schon lange her, Ende der 1940er, aber viele der Comicer-zählungen aus dieser Zeit werden auch heute noch gelesen. Ich habe alles verschlungen, was es in der Richtung gab, italienische, britische, belgische und vor allem amerikanische Comics. Einige der Titel haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt: „Fantax“, „Sheena“, „Captain Marvel“, „Garth“, „Radar“… Und dazu viele der wöchentlichen Pulp- und Comic-Magazine: „Tarzan“, „Donald“, „Mandrake“, „Phantom“… Später entdeckte ich „Tim und Struppi“ für mich, dann Filme und Romane (Hugo, Conrad, Stevenson, London, etc.).

Mein ganzes Leben lang bin ich schon ein begeisterter Comicleser. Und so war der Übergang vom Drehbuch- und Romanautor zum Comicszenaristen auch nicht weiter schwierig für mich. Tatsächlich hat mich die Arbeit in der Filmindustrie am besten darauf vorbereitet. Wenn ich einen Film vorbereite, dann arbeite ich immer mit detaillierten Storyboards. Als Regisseur musst du schon lange, bevor es ans eigentliche Filmen geht, eine Geschichte in Bildern erzählen können.

Noël Simsolo (Autor), Dominique Hé (Zeichner): „Alfred Hitchcock – Der Mann aus London“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 160 Seiten. 24 Euro

Welche Bedeutung haben Alfred Hitchcock und sein Werk für Sie als Filmemacher und Autor?

Als ich auf Hitchcock zum ersten Mal aufmerksam geworden bin, muss ich so acht Jahre alt gewesen sein. Mit meiner Mutter und meiner Schwester bin ich jeden Sonntag ist Kino gegangen. Alfred Hitchcock, Cecile B. deMille, Sacha Guitry und Jean Cocteau, das waren meine ersten Leinwand-Helden. Heute bevorzuge ich Fritz Lang oder das Kino Kenji Mizoguchis, aber damals war Hitchcock mein ein und alles. „Das Fenster zum Hof“… was für ein wilder Ritt! Allein „Vertigo“ reicht schon, um zu verstehen, warum Hitchcock damals meine Begeisterung für den Film entfacht hat. Er fängt nicht einfach nur Bilder ein, um eine Geschichte zu erzählen. Er erschafft Bilder, um eine Geschichte zu erzählen (ähnliche wie Jean-Luc Godard, Sergio Leone, Fritz Lang oder meine Freunde Rainer Werner Fassbinder und Werner Schroeter).

Meine erste professionelle Auseinandersetzung mit Hitchcock hatte ich schon recht früh: Mit nur 24 Jahren habe ich mein erstes Buch veröffentlicht, Thema: Alfred Hitchcock. Und 1980 war hielt ich die Eröffnungsrede auf einer Tagung zu Hitchcock kurz nach seinem Tod. Der Titel meines Vortrags war „Hitchcock – Das Geheimnis und das Kind“. Im Laufe meiner Karriere habe ich weitere Bücher über ihn veröffentlicht und ich durfte Kurz-Dokus über ihn für Bonusmaterial auf verschiedenen DVD-Editionen drehen. Als es also an den Comic über Hitch ging, war ich mehr als gut vorbereitet.

Im Comic lassen Sie Hitchcock seine Lebensgeschichte dem Schauspieler Cary Grant erzählen. Warum haben Sie sich für diesen Star als Interviewpartner und Zuhörer für Hitchcock entschiedenen?

Cary Grant war wie Hitchcock Brite. Diese Ebene, die sie beiden teilten, wollte ich mir zu Nutze machen. Für Hitchcock war seine britische Herkunft essentiell, selbst als er Ende der 1930er nach Hollywood übersiedelte, wollte er nichts vom „American Way of Life“ wissen. Und Cary Grant war ein Hollywood-Schwergewicht – er würde sich von Hitchcock nicht einschüchtern lassen und auf Augenhöhe mit ihm sein.

Sie erzählen Hitchcocks Lebensgeschichte nicht linear, sondern springen motivisch und assoziativ kreuz und quer durch sein Leben. Warum haben Sie sich für diesen Erzählansatz entschieden?

Für diesen Erzählstil habe ich mich an einem anderen Genie des englischsprachigen Kinos orientiert: an Orson Welles‘ „Citizen Kane“. Ich wollte nicht, dass meine Leser steif einer Erzählung und einer Lesart folgen, sondern sich wie in einer Meeresströmung mal hier- und mal dorthin tragen lassen.

Welchen von den Filmen aus Hitchcocks früher Phase, die Sie in Band 1 ihrer Biografie abdecken, finden Sie am Wichtigsten für die Filmgeschichte und für Hitchcocks Oeuvre?

Ich schätze „Mord – Sir John greift ein!“ von 1930 sehr, auch wenn er zu den weniger bekannten gehört. Den Film drehte Hitch gleich zweimal, in einer englischsprachigen und einer deutschen Version.

Seite aus „Alfred Hitchcock – Der Mann aus London“ (Splitter Verlag)