Hier wird hartnäckig gearbeitet. Das englische Anwesen Stonefield ist ein Refugium für SchriftstellerInnen, denen ihr Handwerk nur fernab vom urbanen Raum und den unumgänglichen Alltagsverrichtungen gelingt. Für diese Rahmenbedingungen sorgt in „Tamara Drewe“ bis hin zur Selbstaufgabe die in Verdrängung hochgradig geübte Beth Hardiman. Ihr ebenfalls schreibender Gatte ist der ebenso eitle wie erfolgsverwöhnte Krimiautor Nicholas, dessen regelmäßige Bettgeschichten Beth nach 25 Jahren Ehe zähneknirschend und resigniert hinnimmt. Mit der Ankunft der titelgebenden, attraktiven Klatschkolumnistin Tamara Drewe entwickelt sich jedoch ein Intrigenspiel, geboren aus Lügen, Eifersucht und vergeigten Träumen, das auch noch weitere Bewohner betreffen wird. Am Ende jedenfalls gibt es zwei Tote.
Posy Simmonds zeichnet bereits seit Jahrzehnten Comics, Cartoons und Illustrationen für den Guardian. Dort wurde „Tamara Drewe“ zunächst veröffentlicht. In England wird Simmonds längst gefeiert. Hierzulande kannte man sie bislang lediglich als Kinderbuchautorin. Die 2010 erfolgte Veröffentlichung ihrer zweiten langen (und ersten ins Deutsche übersetzen) Comicerzählung bei Reprodukt schloss fürs Erste eine hiesige Editionslücke (später sollte noch „Gemma Bovery“ folgen).
Formal ist dieses Werk sehr ungewöhnlich: Der karikatureske Strich verleiht den Figuren eine differenzierte Tiefgründigkeit, die die Paradoxie ihrer Gefühlswelten vermittelt und ihnen selbst in den würdelosesten Momenten noch als ein identitäres Gerüst dient. Das wird auch durch das multiperspektivische Erzählen und die ungewöhnliche Wort/Bild-Fusion errichtet: Panelreihen und Prosatexte befinden sich im ständigen Wechsel. Die Interaktionen der Figuren innerhalb der Bilder werden regelmäßig begleitet von ihren Selbstbeschreibungen und Erzählpassagen in Textform.Tamara Drewe bleibt dabei bewusst außen: Ihre Sicht ist in den ebenfalls abgedruckten Kolumnen zu lesen. Das ist weit mehr als ein bloßes Spiel mit den Materialien oder ein fruchtbarer Versuch für gelingende Strategien der Charakterisierung: Die Geschichte will mit ihrem tragisch-spielerischen Humor die Befindlichkeiten des gut betuchten Teils der bürgerlichen Mittelschicht beleuchten. Dafür greifen Mittel leiser Ironie – etwa wenn ein Autor über die Wiesen mit roter Mütze stolziert, die signalisieren soll, dass er während seiner Überlegungen nicht gestört werden will -, sowie eher soziologische Betrachtungen.
Durch die stilistische Verknüpfung von äußerem Handeln und innerer Wahrnehmung entsteht immer wieder ein Eindruck von der Brüchigkeit dieser Scheinwelt, sei es der innere Rückzug als Verleugnung der kreativen Flaute, die Teenager-Hoffnung auf die erwiderte Liebe mit dem Rockstar oder die Illusion einer glücklichen Ehe. Die Charaktere scheinen habituell sehr gebunden.
Tamara Drewe hingegen teilt ihre Befindlichkeiten unmittelbar mit der Öffentlichkeit. Das allerdings erst, nachdem sie durch einen chirurgischen Eingriff ihre Nase korrigieren ließ. Dass ihr Aussehen sie nun ausgerechnet zur Chronistin der Glamourwelt verdammt, obwohl sie sich endlich an einem eigenen Roman versuchen möchte, darf da schon sarkastisch verstanden werden. Denn nicht nur ihr Image lässt kaum Möglichkeit zur Flucht. An ihm entflammen sich letztlich auch die Begierden der Intellektuellen um sie herum. Das macht Tamara Drewe, trotz Happy End, zu einer ziemlich tragischen Figur.
Dieser Text erschien zuerst in der taz.
Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.