Auf Freiersfüßen – „Ich bezahle für Sex“

In den frühen 90er Jahren bezeichnete das amerikanische Comicfachmagazin Comics Journal das damals vermehrt auftretenden Phänomen autobiographischer Introspektion im nordamerikanischen Independent-Comic als New Comics. Erzählerisch fokussierte dieses Label den quantitativ wie qualitativ breit gefächerter Nachklapp zu den ebenfalls thematisch äußerst variablen 60er- und 70er-Jahre Pionieren Robert Crumb, Art Spiegelman oder Harvey Pekar, zu dem heute weitgehend arrivierte Zeichnerinnen und Zeichner wie Julie Doucet, Mary Fleener, Adrian Tomine, Seth, Joe Matt und Chester Brown zählen.

In eigenen, meist selbstverlegten Heftserien lotete man das narrative Potenzial des eigenen Alltags und der eigenen Biographie redlich aus. Mittlerweile ist der Zugriff auf autobiografische Elemente sogar in deutschen Werken so weit fortgeschritten, dass im Feuilleton Überdruss und narrative Stagnation beklagt werden. Gegen solcherlei pauschale Urteile ließe sich vieles einwenden, in einem Punkt jedoch kann man sie deutlich spezifizieren: Der augenscheinlichste Unterschied zu dem, was sich von den Erzählkonzepten der New Comics hierzulande im gegenwärtigen Comicbetrieb, mehr aber noch im Internet als Echo wiederfindet, liegt in der weitaus größeren, geradezu intimen Härte, mit der die Protagonisten der New Comics mit sich selbst ins Gericht gingen.

Faszination und Abscheu ob der kompromisslosen Detailversessenheit geben sich die Klinke in die Hand, wenn Joe Matt in der Reihe „Peepshow“ (eine Auswahl erschien auf Deutsch bei Edition 52) akribisch seine Porno-Obsessionen dokumentiert und dank seiner Akkuratesse sogar Freundschaften aufs Spiel setzt. Chester Brown schildert bereits 1990 in „Die Playboy Stories“ seine frühreife Konfrontation mit dem weltweit wohl populärsten Erotikmagazin, gedeckelt von einem streng katholischen Elternhaus, das unwissentlich den jungen Chester zu allerlei heimlichen, mitunter recht bizarren Wichsritualen nötigt. Schon hier erwiesen sich das Begehren und die Institution Familie als fatale Komplizen und dieser Befund setzt sich indirekt bis in sein zuletzt übersetztes Werk fort.

Chester Brown (Text und Zeichnungen): „Ich bezahle für Sex. Aufzeichnungen eines Freiers“.
Aus dem Englischen von Stephan Pörtner. Walde + Graf, Zürich 2012. 322 Seiten. 22,95 Euro

„Ich bezahle für Sex – Aufzeichnungen eines Freiers“ lautet die reißerische Übersetzung des ungleich ambivalenteren Originaltitels „Paying For It – a comic-strip memoir of being a john“. Womöglich scheute man im Zuge der Graphic-Novelisierung des Comics die Bezeichnung „Comicstrip“ im Untertitel und entschied sich deswegen für eine „Bild“-konformere Variante. In Kanada und den USA jedenfalls waren weder Boulevard-Komplizenschaft noch Hochkulturambitionen vonnöten, um für kontroverse Diskussionen zu sorgen.

Alles beginnt im Jahr 1996 mit einem eher leidlichen Versuch dessen, was zuletzt als Polyamory versuchsweise in die Theorie überführt wurde. Chesters Freundin Sook-Yin unterbreitet ihm, dass sie sich in einen anderen verliebt hat, obwohl ihre Gefühle gegenüber Chester unverändert seien. Brown konzipiert sich selbst als nüchternen Rationalisten, der sich von diesen unerwarteten neuen Umständen relativ unbeeindruckt zeigt. Dies gilt ebenfalls für den strengen Formalismus der Zeichnungen und des Seitenaufbaus, der die Programmatik von Hergés ligne claire für ein, darin liegt der gewaltige Unterschied, ganz und gar erwachsenes Thema adaptiert: keine Schatten, keine elaborierten Hintergründe, reduziertes Mimenspiel (Browns Augen bleiben ausnahmslos hinter weißen Brillengläsern verborgen) und eine einheitliche Seitenarchitektur, bestehend aus acht jeweils gleichgroßen Panels. Hier soll nichts vom Thema ablenken.

Fortan versucht man sich zu dritt zu arrangieren, letztlich läuft jedoch alles auf einen Abspaltungsprozess von Brown hinaus. Den überzeugen seine Beobachtungen der Beziehungsrituale Sook-Yins immer mehr in der bislang diffusen Ansicht, dass die Idee der romantischen Liebe suspendiert werden muss, zumindest sofern sie mit monogamem Besitzdenken einhergeht. Gleichzeitig will er nicht auf Sex verzichten müssen. Also geht er zum ersten Mal zu einer Prostituierten.

Man muss sich die Geschichte als Protokoll von Browns Erfahrungen bis ins Jahr 2010 vorstellen, seriell angeordnet in 33 Kapitel, die in der Regel lediglich die (gefälschten) Namen der jeweiligen Prostituierten tragen. Um ihre Anonymität zu wahren, sucht Brown zudem immer wieder nach Perspektiven, die ihre Gesichter verdecken. Flankiert werden seine Besuche von Gesprächen mit den befreundeten Comiczeichnern Seth und Joe Matt. Sachlichkeit und Entmystifizierung gelten dabei als oberste Prämisse, sowohl das Gewerbe als auch die Freier betreffend. Dass Brown ein Plädoyer für ein seiner Ansicht nach zeitgemäßes Beziehungsmodell entwirft, daran lässt auch der rund 100-seitige Appendix keinen Zweifel aufkommen, in dem er Fußnoten zum Plot und Gegendarstellungen von Seth versammelt sowie die gängigen Argumente gegen Prostitution mit teilweise aberwitzigen Thesen diskutiert.

Widersprüche sind dabei vorprogrammiert und werden von Brown keineswegs ignoriert. Sei es, dass er sich früh „als Kind“ des flexibilisierten Zeitalters entpuppt, wenn er die geplanten dreiwöchigen Besuche mit den finanziellen Investitionen in eine Beziehung abgleicht. Dann sind da die widerlichen Momente der Verdinglichung, wenn er im gerade mal drei Panels fassenden Kapitel „Yvette“ während des Akts resümiert: „Unfreundlich, nicht sehr hübsch, kein Blowjob… kein Trinkgeld für sie.“ Ambivalent wird es auch, wenn er sich auf einschlägigen Websites tummelt und Prostituierte mit vernichtenden Kritiken versieht, um sich zu rächen. Nachdem er der Ehe als Institution den Totenschein ausgestellt hat, verfällt er doch binnen kürzester Zeit selbst bei den Prostituierten althergebrachten Beziehungsmustern, kriegt etwa Gewissensbisse, wenn er sich für eine andere entscheidet. Das erscheint ein bisschen absurd, denn gerade die Abwesenheit eherner Beziehungsrituale ließen ihn das Modell Prostitution lobpreisen. Halten kommt von Haltung: Man mag von Chester Browns Verhalten als Freier halten, was man will. Einen Comic, der seinen LeserInnen so viel Haltung abverlangt, dessen Autor seine Erzählhaltung derart unorthodox präsentiert, wird es so schnell nicht noch einmal geben.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony Magazine

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.