Identitäten und Privilegien

Mit „Rude Girl“ hat Birgit Weyhe ein Comic-Meisterwerk über Alltagsrassismus, Subkultur und kulturelle Aneignung gezeichnet und geschrieben.

Auf einer Germanistik-Tagung in den USA bekommt die Comiczeichnerin Birgit Weyhe vorgeworfen, mit ihren Arbeiten kulturelle Aneignung zu betreiben. Sie reagiert beleidigt: „In Zukunft werde ich nur noch über mittelalte weiße Frauen aus Norddeutschland schreiben.“ In „Rude Girl“ zeigt Weyhe, dass es Möglichkeiten der Reaktion auf dieses Reizthema gibt, die über dieses erste beleidigte Gefühl hinausreichen. In einer langen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und Position als Zeichnerin sowie im Austausch mit der US-amerikanischen Germanistik-Professorin Priscilla Layne entwickelt sie in „Rude Girl“ eine Form, die es ermöglicht, „dass wir als Beobachtende und Lernende die Welt um uns herum wahrnehmen. Dass wir darüber diskutieren, Fehler machen und diese eingestehen können.“

Am Anfang steht die Idee, einen Comic über Priscilla Layne zu zeichnen, deren Biografie Weyhe fasziniert: Aufgewachsen zwischen den Kulturen, zwischen den USA, London, Deutschland und der Karibik, zwischen schwarzer und weißer Lebenswelt, zwischen Punk, Ska und Reggae. Dem schwarzen Umfeld zu weiß, dem weißen zu schwarz, erfindet Layne sich einen Ort, der sich an der Kultur der Außenseiter orientiert: Sie wird Punk, Skinhead – und bleibt ein Oreo, wie ironisch jene „Schwarzen“ genannt werden, die einen „weißen Kern“ in sich tragen. Weyhe verwirft schnell den Plan, lediglich das faszinierende Leben von Priscilla Layne festzuhalten, sondern bezieht diese in den Entstehungsprozess ein, lässt sie die fertigen Kapitel kommentieren, was wiederum in „Rude Girl“ Einzug gehalten hat. Im Dialog der beiden stellt sich immer stärker die soziale Herkunft als prägender heraus als die Hautfarbe, bzw. sind es gerade die Wechselwirkungen zwischen rassistischen Ausgrenzungen und jenen aufgrund der Klasse, die das Leben von Layne – wie auch das von Weyhe selbst – in bestimmte Richtungen gelenkt haben. Gleichzeitig reflektiert Weyhe über ihre früheren Comics, etwa darüber, wie sie damals Schwarze dargestellt hat, und wie sie dies heute andere machen würde. Dadurch, dass sie jedes Kapitel mit dem Cover eines Musikalbums beginnt, das im Leben von Layne zu bestimmten Zeiten eine zentrale Bedeutung hatte und die keineswegs dem Kanon von „Black Music“ entsprechen, zeigt sie außerdem, dass Kultur immer vom Dialog lebt, von der gegenseitigen Beeinflussung, von Aneignungen, Übernahmen, Abgrenzungen – die Alben reichen von Michael Jackson über The Cure bis zum Deutschpunk-Sampler „Schlachtrufe BRD“.

Es sei wichtig, so Weyhe, „dass wir uns nicht komplett begrenzen. Ich wünsche mir stattdessen, dass alle die Freiheit haben können, auch aus der Perspektive eines anderen Geschlechts, Hautfarbe, Religion, Klasse erzählen zu dürfen.“ Mit „Rude Girl“ hat sie einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte geliefert und gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie „Aneignung“ produktiv gemacht werden kann, wenn man sich in diesem Prozess auch als Lernende versteht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf: rosalux.de

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Rude Girl“.

Birgit Weyhe: Rude Girl • Avant-Verlag, Berlin 2022 • 312 Seiten • Softcover • 26,00 Euro

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Druckfrisch ist von ihm die Textsammlung „Nach Strich und Rahmen“ erschienen.