Von den Zumutungen gesellschaftlicher Konventionen – „Betty Boob“

Elisabeth B. verliert ihre linke Brust, weil sie Brustkrebs hat. Das ist eigentlich schon schlimm genug. Doch dann verliert sie auch noch ihren Job, weil ihr verletzter Körper im Publikumsverkehr nichts hermacht. Elisabeth braucht ein neues Selbstwertgefühl – und wird zu „Betty Boob“.

In dem Comic geht es weniger um Krankheitsbewältigung als darum, sich frei zu machen: von den eigenen Ansprüchen, vor allem aber von den Ansprüchen der anderen an einen perfekten Körper. Denn einen perfekten Körper gibt es nicht, das macht die Autorin Véro Cazot mit „Betty Boob“ sehr deutlich. Aber es gibt eben Konventionen, innerhalb derer ein Körper als perfekt, schön und gut gilt.

Véro Cazot (Autorin), Julie Rocheleau (Zeichnerin): „Betty Boob“.
Splitter Verlag, Bielefeld 2018. 184 Seiten. 24,80 Euro

Wie eng solche Bewertungen sind, macht auch die Zeichnerin Julie Rocheleau durch den Stil des Comics deutlich: Immer wieder zitiert sie die 50er Jahre, die als durch und durch spießig gelten – mit Petticoat-Kleid und Chinohose. Überhaupt ist Julie Rocheleau sehr deutlich in ihren Zeichnungen: Wenn Elisabeth aus dem Krankenhaus kommt, dann aufrecht und mit strahlendem Lächeln – immerhin ist sie gerade als Siegerin im Kampf gegen den Krebs hervorgegangen -, in der Hand hält sie eine Dose mit der amputierten Brust, als sei das eine Trophäe. Ihr Freund dagegen läuft gebeugt neben ihr, wie der Schatten seiner selbst, ganz so, als habe er gerade seinen Lebenstraum verloren. Als sie zuhause ankommen, ist das Haus der beiden eingerüstet – als einziges in der Häuserzeile. Die Beziehung ist eine Baustelle.

Weil die Bilder voller prägnanter Aussagen sind, kommt der Comic fast ohne Worte aus. Das ist großartig – denn so bekommt diese Geschichte eine Leichtigkeit, wie man sie von flott getanzten Musicals kennt. Damit macht die Zeichnerin Julie Rocheleau klar: Hier geht es nicht um die existentielle Bedrohung der Krebserkrankung, sondern um die Zumutungen, die gesellschaftliche Konventionen bedeuten – und denen begegnet der Comic mit Humor und Leichtigkeit.

Ernüchternde Liebesspiele mit ihrem Freund, ein Tanz mit ihrer verlorenen Perücke und dann ein neuer Mann und die Sorge, dass der ihren Körper nicht sexy finden könnte. Elisabeth muss einiges meistern auf dem Weg zu ihrem neuen Leben. Das findet sie in einem Varieté, in dem lauter Menschen auftreten, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen, Menschen mit wuchtigen Körpern, Beinprothesen oder Transvestiten – und hier wird Elisabeth zu Betty Boob, also zu Betty Busen, die als moderne tanzende Amazone das Publikum erobert.

Damit geht sie übrigens den umgekehrten Weg wie die Betty Boop, die man aus Popeye-Cartoons kennt, die als sexy Showgirl startete – und dann als gezähmte Hausfrau mit Freund endete, weil es die amerikanische Zensur so wollte. Diese aktuelle Betty Boob plädiert für sexuelle Selbstbestimmung und überhaupt für Selbstbestimmung, die frei von gesellschaftlichen Zwängen ist.

Das ist wunderbar – und doch ist die Lösung, die die Autorin Véro Cazot findet, sehr dem 20. Jahrhundert verhaftet: Menschen, die nicht den Konventionen entsprechen, finden ihren Platz nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern in einem Biotop von Sonderlingen. Dafür – und auch wirklich nur dafür – gibt es ein kulturradio-k Abzug. Denn einen so wunderbar leichten und zugleich ernsten Comic, der das Leben nach dem Brustkrebs zum Thema macht, habe ich noch nie gelesen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 28.11.2018 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.