Modesty Blaise – Vermächtnis einer Lady

© Titan Books / Carlsen

Der Comicstrip „Modesty Blaise“ folgt den geheimen Abenteuern einer raffinierten jungen Dame. Sie ist die ehemalige Leiterin eines internationalen Verbrechernetzwerks im Ruhestand und mit fabelhaftem Reichtum gesegnet. Nun langweilt sie sich. Deshalb stellt sie ihre beträchtlichen Talente dem britischen Geheimdienst für Undercover-Arbeit zur Verfügung – mit kräftiger Unterstützung ihres treuen Leutnants, Willie Garvin.

Modesty Blaise und Willie Garvin sind ein literarisches Paar, doch sie sind vollständig und menschlich. Ihre Persönlichkeiten haben Gegenwärtigkeit, Tiefe und Nuancen. Sie leben. Für ein Comicstrip-Paar ist das bemerkenswert.

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Modesty Blaise ist die Erfindung des englischen Comic-Autors Peter O’Donnell (1920 – 2010). In den frühen 1960er Jahren baten ihn Redakteure, eine neue Figur zu kreieren, und er entschied, „dass es an der Zeit war, dass jemand aufwachte und eine Frau hervorbrachte, die in der Lage sein würde, alle Heldenaufgaben zu erledigen – vielleicht sogar besser als die meisten Männer.“ Die amerikanische Schriftstellerin Caitlin Flanagan: „Modesty Blaise war in dem Jahr, in dem ich 15 Jahre alt war, mein geheimes Ich, das Thema leidenschaftlicher Tagträume und die erste weibliche Figur, der ich begegnete, die für etwas anderes als eine Krankenstation, eine Schule oder einen Haushalt verantwortlich war. Sie leitete eine Organisation voller gefährlicher Männer und sie alle gehorchten ihr und verehrten sie. Sie würde genau wissen, was sie mit einem Harvey Weinstein oder einem Matt Lauer machen sollte, und es wäre eine Freude, ihr dabei zuzusehen. Ein halbes Jahrhundert vor Beyoncé war Modesty nicht herrisch. Sie war die Chefin.“

Natürlich ist Modesty auch eine sexy Chefin. Aber in erster Linie ist es der Einfallsreichtum von O’Donnells Handlungen, der den Reiz der Serie ausmacht: die abrupten Wendungen und Cliffhanger, an denen O’Donnell seine Leser suspendiert, die Neuartigkeit seiner Charaktere und ihrer gruseligen Antagonisten. Dies gilt sowohl für die Strips als auch für die elf Thriller-Romane und die beiden Kurzgeschichten-Sammlungen, die an dieser Stelle ebenfalls empfohlen seien. Sie sind mindestens so spannend und gut geschrieben wie Ian Flemings Bond- Bücher, samt schlagfertigen Dialogen, widerwärtigen Bösewichten, ausweglosen Situationen und Schauplätzen rund um die Welt. Darüber hinaus aber auch von einer humanistischen Weisheit und Wärme beseelt, die 007 als das erscheinen lässt, was er ist: ein kalter Krieger.

Modestys Entstehung entsprang einer von O’Donnells Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Als er in einer kleinen Funkabteilung in der Nähe des Kaukasus stationiert war, fiel ihm ein kleines Mädchen auf, das etwa zehn Jahre alt war und an einem Flussufer entlang lief. „Sie war ihre eigene Person, dieses kleine Kind“, erzählt O’Donnell in seinem Essay „Girl Walking: The Real Modesty Blaise“, „ich habe dieses Kind nie vergessen und als ich einen Hintergrund für Modesty Blaise brauchte, wusste ich: Dieses Kind ist der Ursprung ihrer Geschichte.“ Und so schrieb er die Geschichte dieses Flüchtlingskindes weiter: Verwaist, namen- und staatenlos wandert die kleine Heldin jahrelang durch den Nahen Osten und Nordafrika, wo sie auf den Basaren stiehlt oder mit Nomaden unter freiem Himmel lebt.

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Sie wird die Beschützerin eines brillanten, aber wehrlosen alten Mannes, Lob, ein ungarischer Professor, der fünf Sprachen beherrscht. Nach seinem Tod landet sie in Tanger, wo sie mit 19 Jahren ein Syndikat übernimmt, es in The Network (dt. „Das Netz“) umbenennt und zur unerschütterlichen Chefin sehr harter Männer wird, die sie „Mam’selle“ nennen. Modestys Stellvertreter im Netz ist ein Mann namens Willie Garvin, ein ehemaliger Fremdenlegionär mit Cockney-Hintergrund, den sie vor Jahren in einem Thai-Box-Ring in Bangkok entdeckte. Also rettete Modesty Willie aus seinem desperaten Leben und gab ihm die Gelegenheit, etwas aus sich zu machen. Und siehe da, sechs Monate später taucht ein völlig neuer Willie Garvin auf – ein Mann von Charme und Zuversicht, der durch sein Wissen, dass jemand an ihn glaubte, gestärkt wird.

Beide haben (jede Menge) Liebschaften, aber sie schlafen niemals miteinander, küssen sich kein einziges Mal. O’Donnell: „Es ist eine Beziehung, die Frauen besser verstehen als Männer.“ Modesty teilt das Netz unter ihren Untergebenen auf, behält jedoch ihre Villa in den Hügeln von Tanger und erwirbt ein Penthouse in London, ein Bauernhaus in Wiltshire sowie eine geheime Zuflucht an der Steilküste von Malta. Willie nimmt eine gemütliche Kneipe an der Themse in Besitz, The Treadmill, in der er seine Waffenschmiede und ein Trainings-Dojo einrichtet. Aber natürlich ist diese neue, ruhige Existenz nichts für die beiden, und als Sir Gerald Tarrant vom britischen Geheimdienst MI6 unorthodoxe Hilfe in einem für ihn illegalen Unternehmen braucht, wendet er sich an Modesty und Willie. Adieu Fadesse. Und so kommen wir am Ausgangspunkt aller Abenteuer von Modesty Blaise an.

Der Modesty-Blaise-Strip begann seinen langen Lauf am 13. Mai 1963 im Londoner „Evening Standard“, aber Modesty hatte schon viele Monate zuvor in den hinteren Korridoren von Peter O’Donnells Fantasie gelauert. Nach einem Jahrzehnt, in dem er Cartoon-Geschichten für Männer, wie „Garth“ und „Tug Transom“, produzierte und gleichzeitig romantische Romane für weibliche Leser (unter dem Alias Madeleine Brent) schrieb, hatte er überlegt, die beiden Dinge irgendwie zu „einer Superfrau, die Abenteuer der ganz großen Art erlebt“ zu kombinieren.

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Der kongeniale Zeichner Jim Holdaway wurde verpflichtet, O’Donnells Geschichten in Strips zu verwandeln. Die beiden waren ein Dream-Team, das sich auch privat bestens verstand und gerne herumblödelte. O’Donnell schrieb später über die Streiche, die ihm Holdaway spielte: „Manchmal öffnete sich die Tür ein paar Zentimeter und eine Stimme befahl mir, meine Waffe wegzuwerfen und mit erhobenen Händen herauszukommen. Manchmal gab er den Gaszähler mit Falsettstimme. Manchmal flog schon mal sein Hut lange vor seinem Auftritt in den Raum und einmal kündete er sich noch vor der Türe an, indem er Zigarettenrauch durch den Postwurfschlitz in mein Büro blies.“

1970 starb der große Jim Holdaway inmitten der 18. Modesty-Geschichte überraschend an einem Herzinfarkt. Die „Standard“-Redakteure versuchten, einen Ersatz zu finden, und sie und O’Donnell entschieden sich schließlich für einen Spanier, Enrique Badía-Romero. Die Produktion des Streifens wurde größtenteils per Post durchgeführt und machte über die „Standard“-Redaktion einen Umweg, damit die Skripte für den einsprachigen Romero ins Spanische übersetzt werden konnten.

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Romero verließ die Serie 1978, um sich auf seinen eigenen (wenn auch stark von „Modesty Blaise“ abgekupferten) Strip „Axa“ zu konzentrieren. Er kehrte im Herbst 1986 zurück und fuhr fort, den Strip für den Rest seines Laufs zu zeichnen. Während seines Sabbaticals wurde Modesty kurz von John Burns, dann von Pat Wright und schließlich von Neville Colvin gezeichnet. An die cinematische Dynamik Holdaways kam am ehesten Colvin heran, obwohl ich seinen Strich etwas schludrig finde.

Natürlich fand der spannende Stoff auch ins Kino, nicht zuletzt durch eine Produktion von Quentin Tarantino („My Name Is Modesty“, 2004, Regie: Scott Spiegel, mit Alexandra Staden in der Titelrolle), der die Rechte der ersten drei Romane aufkaufte und in „Pulp Fiction“ (1994) seine Gangsterfigur Vincent Vega (John Travolta) einen davon auf der Toilette lesen lässt – seine letzte Lektüre.

Aber auch schon viel früher, und zwar bereits 1966 wurde „Modesty Blaise“ fürs Kino adaptiert. Der Film mit Monica Vitti in der Titelrolle ist ein schreckliches Machwerk und ein einziges Missverständnis, den Charme und den dunklen Zauber des Ausgangsmaterials verkennend. O’Donnells Original-Drehbuch war durch die Hände vieler ahnungsloser Skript-Doktoren gewandert und das verwässerte Ergebnis machte aus einem europäischen Thriller mit Tiefgang eine hippe und noch dazu unlustige Hippie-Farce. Noch in hohem Alter sagte O’Donnell, allein der Gedanke an den Film verursache ihm Nasenbluten.

Am 11. April 2001 endete der Comicstrip nach fast 38 Jahren mit 10.183 täglichen Einzelstrips. Doch das ist wohl kaum das Ende von Modesty und Willie: Sämtliche Modesty-Strips sind zwischen 2004 und 2017 bei Titan Books in 95 liebevoll gestalteten Comic-Bänden erschienen. Somit ist dafür gesorgt, dass eine dunkle Perle der britischen Popkultur nicht in Vergessenheit gerät.

Simon Schreyer, geboren 1974 in Kitzbühel, wuchs in den Tiroler Bergen, an der Triestiner Küste, vor allem aber vor dem Plattenspieler seines Vaters und den Bücherregalen seiner Mutter auf. Während des Studiums der Philosophie begann er über Popkultur, Literatur, Lifestyle und Snowboarden zu schreiben. Schreyer war Reporter bei der Black Rock Gazette (der offiziellen Tageszeitung des Burning Man Festivals), langjähriger leitender Redakteur in der Medienwelt von Red Bull und freier Mitarbeiter bei Skug, Der Kitzbüheler, 69-Magazine, Bergwelten, Innovator, Der Standard, Der Wiener u. v. a. Auf www.simonside.net gibt es viele seiner Essays und Interviews zum Nachlesen.