Vor 25 Jahren ist der französische Schriftsteller, Drehbuchautor, Literatur- und Filmkritiker, Essayist und Comic-Redakteur Jean-Patrick Manchette gestorben. Manchette, Jahrgang 1942, gehört zu den großen Innovatoren der Kriminalliteratur. Er steht in der Reihe von Dashiell Hammett, Eric Ambler, Chester Himes, Ross Thomas, Patricia Highsmith, Jerome Charyn, Derek Raymond, Paco Ignacio Taibo & Co. Er hat für die Ästhetik des Kriminalromans Maßstäbe gesetzt. Seine Romane „Nada“ (1972) oder „Position: Anschlag liegend“ (1982) gehören nicht nur zum Kanon der wichtigsten Kriminalromane, sondern auch zu den Schlüsselwerken der zeitgenössischen Literatur.
Man hat Manchette den Erfinder des Néo-Polars genannt, also jener Spielart des französischen Kriminalromans, deren Themen politisch und deren ideologische Position „links“ waren. Tatsächlich war Manchette in den 1960er Jahren politisch aktiv, ausgelöst durch den Algerien-Krieg (sein Roman „Die Affaire N´Gustro“ von 1971 thematisiert die Ermordung Ben Barkas) und durch die 68er Bewegung, wobei seine konkrete politische Positionierung irgendwo zwischen Situationisten und Anarcho-Marxismus oszillierte. Aber er hat sehr deutlich formuliert, dass „links“ und „politisch“ keinesfalls als einzige Qualitätskriterien für Kriminalliteratur gelten können.
Der Krimi und der DadaDie These, er habe mit nur elf Romanen die französische Kriminalliteratur von der Romantik der Gangster-und-Flic-Konstellation befreit, greift zu kurz – Manchette hätte so nur einen Provinzialismus überwunden, denn den explizit politischen Thriller gab es schon längst. Niemand kannte ihn besser als Manchette, der vermutlich deswegen als „Theoretiker“ des Genres gilt, weil er seine Lesefrüchte ständig reflektierend in verschiedenen Kolumnen (viele davon für „Charlie Hebdo“) ausbreitete. Bei uns kann man große Teile dieses eher essayistischen als rezensierenden Werkes in den beiden Bänden „Chroniques, Essays zum roman noir“ (Distel Verlag) und „Porträt in Noir“ (Alexander Verlag) nachlesen.
Es ist schwierig, eine theoretisch-poetologische Position von Manchette zu fassen. Seine Herangehensweise an die Bücher ist primär neugierig: Er entdeckt peu à peu Jerome Charyn, Ross Thomas oder Derek Raymond, er versichert sich schreibend und nachdenkend Leuten wie Donald E. Westlake oder Joe Gores, er sieht klar die Schwachstellen von (oft) gehypten Ikonen wie Jim Thompson. Und er hat eine große intellektuelle Spannweite: Wir begegnen Arno Schmidt und Oskar Panizza, und dass Kriminalliteratur historisch und intellektuell viel mit Dada zu tun hat, ist für ihn selbstverständlich. All das gilt cum grano salis auch für seinen Umgang mit Filmen. Sein kritisches Denken richtet sich weniger auf Genre-Filme, sondern vor allem auf große Regisseure von Fritz Lang bis Rainer Werner Fassbinder.
Dass Manchette selbst als Drehbuchautor keine Probleme hatte, gut bezahlte Filme unter anderem für (den linken Gedankengutes unverdächtigen) Alain Delon zu schreiben, spricht für seine professionelle Souveränität.
Was Manchette lobt, was er verwirft, folgt keinem theoretischem System, sondern seiner Urteilskraft im Einzelfall. Reine Geschmacksurteile gibt es bei ihm nicht. Das macht die Lektüre seiner theoretischen Schriften so erfreulich: Auf großem Wissen und breiter Bildung fundierte, argumentativ autoritative Urteile mit als solchen gekennzeichneten Subjektivismen und Idiosynkrasien, die sie als intellektuelle Tätigkeiten eines lebendigen, denkenden Menschen ausweisen.
Weil diese Art des Räsonierens immer an konkrete Filme, Bücher und andere Diskurse gebunden ist, ist sie pointilistisch, manchmal fast kaleidoskopisch, nie genre-sektiererisch, nie in theoretische Korsette gepresst oder auf ein paar Bonmots herunterbrechbar. Man täte dem intellektuellen Format Manchettes unrecht, wenn man ihn auf ein paar Sentenzen wie „der Polar ist ein moralisches Genre“ und so weiter reduzierte.
So etwas ist ein wenig Manchette-Folklore, ähnlich wie die Behauptung von der Dominanz des Thematisch-Politischen. Gerade in seinem „politischsten“ Roman „Nada“ – ein paar dilettantische Anarchos entführen den US-Botschafter und werden mit den finalen Lösungsoptionen der Staatsmacht konfrontiert – erweist sich Manchette als Virtuose des Komischen. Diese Komik betreibt erst die Subversionen auf allen Ebenen des Textes, die ihn dann so recht politisch machen. Manchette macht sich nicht nur über das Erzählte, sondern auch über das Erzählen lustig, indem er dessen Standardsituationen unterläuft. „Nada“ exekutiert gnadenlos den Zeitplan eines beliebigen Thrillers und persifliert ihn gleichzeitig durch Kompression. Linke Splittergruppen werden durch groteske Häufung ihrer Statements als politisch impotent sichtbar, die gegenseitige Infiltration der verschiedenen Polizeien und Geheimdienste lässt unseren NSU-Skandal als strukturiert erscheinen. Oder: Manchette baut eine pedantische Biografie einer Figur, jedes noch so kleine Detail wird erwähnt, bis es sehr komisch unpräzise heißt: „Er tötete fünf oder sechs Menschen.“ Der Blick des Erzählers, die Zentralperspektive, gerät ins Grübeln: „Meyer hatte Lust, sich zu erschießen oder einfach nur zur Arbeit zu gehen, schwer zu sagen.“Ironie und Sarkasmus durchdringen alles, was erzählt wird. Was bei anderen Autoren als Enthüllung, Pointe und Skandal angelegt wäre, wird hier mit lakonischer Selbstverständlichkeit behandelt: Die Staatsmacht und ihre Medien lügen und betrügen, die Macht mordet wie irgendein Syndikat. Was denn sonst? Manchettes Romane gehen davon aus, dass das systemisch so ist. Wir wissen nicht, was in den Köpfen der Figuren vorgeht. Über den Protagonisten in „Position: Anschlag liegend“ lesen wir: „Sein Gesicht hatte zunächst einen Ausdruck großer Verblüffung angenommen; anschließend drückte es Sorge und Nachdenklichkeit aus oder so ähnliche Gefühlsregungen, die diesem Gesicht ein solches Aussehen verleihen konnten.“
Gegen Trivialisierung
Solche ästhetischen Entscheidungen sind erkenntnistheoretischer Natur: Literatur à la Manchette handelt nicht zwangsläufig über das Innenleben von Figuren, mit denen sich ein amüsierwilliges Lesepublikum identifizieren könnte. Denn in solchen Konzepten von Kriminalliteratur steckt bevormundende Ideologie. Gegen solche Trivialisierungen hat Manchette schon vor 30 Jahren mit ästhetischen Mitteln Position bezogen. Und zu künstlerischen Interpretationen Anlass gegeben: Nachdem er selbst mit dem Comic-Künstler Jacques Tardi schon 1978 das Szenario für „Der Schnüffler“ entworfen hatte, deutete Tardi noch dreimal Stoffe von Manchette auf seine sehr spezifische Weise („Killer stellen sich nicht vor“, „Zum Abschuss freigegeben“, „Im Visier“). In Zusammenarbeit mit Manchettes Sohn Doug Headline schuf der Zeicher Max Cabanes „Blutprinzessin“, „Fatale“ und „Nada“. Die giftige Colorierung von Cabanes und die atmosphärisch brutalen schwarz-weißen Bilder von Tardi sind schöner Ausdruck der kühlen, gleichzeitig enorm dynamischen Ästhetik von Manchette.
Dieser Beitrag erschien zuerst zu Jean-Patrick Manchettes 20. Todestag in: Freitag 18/2015
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.