Mit ihrer Graphic Novel „Wer ist hier die Mutter?“ geht die US-Zeichnerin Alison Bechdel ihren eigenen Wurzeln nach – schmerzhaft und ehrlich.
„Während ich überlege, die Geschichte noch früher zu beginnen, vor dem Coming-out, vor der ersten Periode, wird mir klar, dass das Buch über meine Mutter wahrscheinlich keinen richtigen Anfang hat“, stellt Alison Bechdel zu Beginn ihres Comic-Dramas „Wer ist hier die Mutter?“ fest. Warum also nicht mit dem Ende beginnen, das gleichzeitig ein Anfang ist: „Es gab etwas, das ich von meiner Mutter nie bekommen habe. Da ist eine Lücke, eine Leerstelle. Doch stattdessen hat sie mir etwas anderes gegeben. Einen Ausweg.“ Die Lücke, das ist die fehlende Zuwendung. Den Ausweg findet Bechdel im kreativen (Selbst-)Ausdruck, im Zeichnen und Erzählen. Ihre Comic-Autobiografie ist ein hartes Stück Auseinandersetzung mit der Frau, die sie geboren, großgezogen und – letztlich dann eben doch – zur Künstlerin gemacht hat.
Alison Bechdel ist gewissermaßen ein Phänomen, nicht nur auf dem amerikanischen Buchmarkt, sondern auch im Feld der Gender-Revolution. Mit ihrem Graphic Novel-Debüt „Fun Home“ gelang ihr 2006 ein überraschender Bestsellererfolg in den USA. Sie erzählt darin von dem Verhältnis zu ihrem Vater, der seine Homosexualität unterdrückte und Selbstmord beging. „Fun Home“ machte die queere Subkultur-Künstlerin plötzlich zu einer auch im Mainstream angesehen Autorin – und zu einer mittlerweile oft zitierten Stichwortgeberin der Gender-Theorie. Schon in den 80er Jahren hatte Bechdel die Serie „Dykes to Watch Out For“ kreiert, einen der ersten und erfolgreichsten queeren Comicstrips weltweit. In dieser Serie kommt ein Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rollenverständnisses von Frauen in Spielfilmen vor. Inzwischen findet ebenjener Kriterienkatalog – als „Bechdel-Test“ – auch in der Realität seine Anwendung, an Universitäten, in der Filmkritik, in feministischen Gruppen.Mit „Wer ist hier die Mutter?“ kehrt Bechdel nun nochmals zu ihren Wurzeln zurück, diesmal eben zum weiblichen Elternteil. Und diese Rückkehr ist ein schmerzhafter Weg: „Als Mom mir plötzlich keine Gutenachtküsse mehr gab, fühlte sich das fast wie eine Ohrfeige an. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Wenn man mit sieben zu alt war, war man eben zu alt.“
Die Leser begleiten Bechdel im Schreibprozess, ihr Comic wird mehr und mehr zu einem Metabuch, wie die Mutter es an einer Stelle nennt, zu einer Veranschaulichung künstlerischen Ausdrucks und einer Reise in die Psyche der Autorin – immer selbstreflexiv, selbstironisch und selbstbewusst. Jedes Kapitel beginnt mit einem Traum, den die Autorin mithilfe von Sigmund Freuds „Die Traumdeutung“ auseinandernimmt. Eines der Probleme, mit denen sie sich herumschlägt, ist ihre Schwierigkeit, Beziehungen einzugehen. Im Buch wird das Scheitern der Liebesbeziehungen zum Scheitern der Beziehung zur Mutter parallel gesetzt. Nach Lösungen sucht die Erzählerin etwa in Psychoanalysesitzungen, denen der Leser ebenso beiwohnt wie den Diskussionen mit der Mutter über das gerade entstehende Buch. Alles wird schonungslos ans Tageslicht befördert: vergrabene Aggressionen, Selbstzweifel und die permanente künstlerische Reflexion des eigenen Lebens: „Ich leide darunter, dass ich meine Gedanken immer schon überarbeite, ehe sie überhaupt Form annehmen.“
Um der defekten Beziehungsmechanik auf die Spur zu kommen, springt Bechdel durch ihre Biografie, von Schlüsselmoment zu Schlüsselmoment, durchkämmt ihre Kindheit, das Verhältnis zu Geschwistern und Partnerinnen. Zur Seite steht ihr dabei ein Bezugssystem aus psychoanalytischen Schriften, von Jacques Lacan bis Alice Miller. Zentral ist dabei der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott, bekannt für seine Studien zu Mutter-Kind-Verhältnissen.Das alles mag nach einem womöglich hilfreichen, für den Leser jedoch auch ermüdenden Unterfangen klingen. Glücklicherweise ist Alison Bechdel sich der Fallstricke autobiografischer Erzählungen aber bewusst. Und so komponiert sie ihre Geschichte in virtuosen Sprüngen, zusammengehalten von ihrem reduzierten Zeichenstil, der sich ganz auf das Wesentliche konzentriert, auf die Personen, in deren Mimik sich Abgründe auftun, Welten entstehen und wieder zerbrechen. Es gelingt ihr, die Komplexität der menschlichen Psyche in Zeichnungen zu übertragen. Etwa wenn Bechdel immer wieder die Simultaneität verschiedener Zeit- und Bewusstseinsschichten in einem einzigen Panel aufeinanderprallen lässt.
Der Comic wird schließlich zum zentralen Kommunikationsmittel zwischen Tochter und Mutter – zur Grenze, zum Vermittler und auch zum Heilungsmittel. Das von Winnicott herausgearbeitete „Übergangsobjekt“, das Objekt, das einem Kind die Loslösung von der Mutter ermöglicht, ist bei Bechdel der Raum der Kreativität – und dieser ist ihr wiederum von ihrer Mutter in einem ritualisierten Spiel geöffnet worden: „Ich glaube, dass mir meine Mutter mit unserem ‚Verkrüppeltes Kind‘-Spiel das Schreiben beigebracht hat. Je weiter ich mich in diesen imaginären Raum vorwagte, desto weiter öffnete er sich.“
„Verkrüppeltes Kind“: ein sprechender Name für ein Spiel, das eine defekte Mutter-Kind-Beziehung illustrieren, aber auch retten kann. So endet „Wer ist hier die Mutter?“ mit der versöhnlichen Erkenntnis, dass selbst in der Tragik einer problematischen Mutter-Kind-Beziehung ein Funken Glück zu finden sein kann. Ihrem Buch hat Bechdel die Widmung vorangestellt: „Für meine Mutter, die weiß, wer sie ist.“
Dieser Text erschien zuerst in: Der Freitag 16/2014
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.