Der US-amerikanische Autor und Pionier des queeren Comic Howard Cruse ist mit 75 Jahren gestorben. Wir möchten mit diesem älteren Text an sein Meisterwerk „Stuck Rubber Baby“ erinnern, das derzeit leider nur antiquarisch erhältlich ist.
Vier Jahre nahm die Arbeit an „Stuck Rubber Baby“ den US-Comicautor Howard Cruse in Beschlag, zwei mehr als ursprünglich geplant. Weil der Comicbetrieb weltweit für derartige Mammutprojekte in den seltensten Fällen eine finanzielle Absicherung in Aussicht stellt, blieb Cruse in dieser Zeit nur durch die Unterstützung von Freunden, Kollegen und Mäzenen ein Leben in völliger Armut erspart. Die Manie, dass da etwas erzählt werden muss – von sich und von einer kaputten Zeit und Gesellschaft, von deren bedrohlichen Nachwehen, vom gar tödlichen Kampf um Selbstbestimmung und von all den tumben Mechanismen, die die Menschen zu Mördern (im Geiste) werden lassen -, merkt man diesem Glanzstück der Comicgeschichte mit jeder Seite an. Die Resonanz bei der Erstveröffentlichung 1995 blieb zunächst zaghaft; die wichtigsten Auszeichnungen häuften sich erst im Laufe der Jahre an. Ob es an den Themen lag?
Cruse, als Verleger der Reihe „Gay Comix“ seit den achtziger Jahren selbst ein alter Hase im Geschäft und einer der wichtigsten Vertreter des schwulen US-Undergroundcomics, erzählt mittels seines Alter ego Toland Polk weniger autobiografisch als dokumentarisch vom Jahr 1963 im Süden der USA: Obwohl Cruse auch seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse erzählerisch nutzt, entwirft er vor allem ein detailliertes Gesellschaftspanorama anhand fiktiver Orte und Personen, die reale (und im Glossar ausführlich entschlüsselte) Vorbilder besitzen.Er präsentiert sich selbst als einen liberalen wie opportunistischen WASP (White Anglo-Saxon Protestant), der mit seiner Homosexualität hadert und zugleich die Anfänge der schwarzen Befreiungsbewegung miterlebt. Statt auf Zeitkolorit zu setzen, das Geschichte schlimmstenfalls als bloße Abfolge politischer Ereignisse simplifiziert, fokussiert Cruse in seiner Erzählung die realen Lebensbedingungen unter den moralischen Standards eines allgegenwärtigen Rassismus: Die Rassentrennung, ja selbst die Lynchmorde des Ku-Klux-Klans galten gemeinhin als Kavaliersdelikte. In diesem Klima lernt Toland eher unfreiwillig den Zusammenhang zwischen Rassismus und Homophobie kennen. Als er von zu Hause wegzieht, gerät er in den Umkreis von Leuten, die allesamt an Widerstandsstrategien feilen und ihr Leben dafür aufs Spiel setzen.
Der Autor erzählt Zeitgeschichte derart stringent und erschütternd als Ausdruck gesellschaftlich habitualisierten xenophobischen Terrors, dass die Lektüre das Studium ganzer Semesterapparate ersparen könnte. Cross Cult verleiht der deutschen Neuauflage ein bibliophiles Gesicht (inklusive eines Vorworts der US-Comicautorin Alison Bechdel und eines Essays von Andreas C. Knigge, leider ist die Ausgabe nur noch antiquarisch erhältlich), gebührend für ein Ausnahmewerk von diesem Kaliber. Ein kleines Making-of im Anhang vermittelt einen Hauch davon, wie viel Recherche (aus einer Zeit vor der Internetbildersuche) in den akribischen Schwarzweiß-Zeichnungen steckt.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 1/2012
Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.