Durch die Yôkai zur Kunst – „Tante NonNon“

Seltsame Geräusche auf dem Dachboden? Das ist sicher ein Yôkai, der mit Bohnen wirft. Wenn du die Totenwache nicht einhältst, wird ein Yôkai dich verfolgen. Und wenn du das Haus nicht sauber hältst, lockt das sicher einen Yôkai an, der fortan deine Ruhe stört.

Tante NonNon, die Titelfigur im zweiten Band der Erinnerungs-Trilogie des 2015 im Alter von 93 Jahren verstorbenen Manga-Zeichners Shigeru Mizuki, hat immer eine Information über die verschiedenen Yôkai, die Geisterwesen des japanischen Volksglaubens, parat.

Sie ist stark in den folkloristischen Traditionen verankert – und mit den Yôkai, ihren Handlungsweisen und ihren Bedeutungen kennt sie sich besser als die meisten im Dorf. In allen möglichen alltäglichen und nichtalltäglichen Situationen könnte laut Tante NonNon ein Yôkai seine Hände im Spiel haben. Kein Wunder, dass der fantasievolle junge Shigeru, genannt „Gege“, gerne Zeit mit ihr verbringt.

Shigeru Mizuki (Autor und Zeichner): „Tante NonNon“.
Aus dem Japanischen von Daniel Büchner. Reprodukt, Berlin 2019. 416 Seiten. 20 Euro

Nach der künstlerischen Verarbeitung seiner Kriegserlebnisse in dem Buch „Auf in den Heldentod!“ wandert Shigeru Mizuki in „Tante NonNon“ zurück in seine Kindheit und frühe Pubertät, wo der Grundstein für seine künstlerische Arbeit gelegt wurde. Einen bedeutenden Anteil daran hatte die ältere Frau, die nach dem Tod ihres Mannes zu Mizukis Familie zog. In lose aufeinander aufbauenden Episoden lässt Mizuki uns an seinen Erinnerungen teilhaben.

Wenn Tante NonNon erzählt, hört Gege gebannt zu. Er hat sein Zeichentalent bereits entdeckt und verfasst lieber seine selbst erfundenen Geschichten, als für die Schule zu pauken. Durch die Erzählungen von Tante NonNon rückt sein Fokus auf fantastische und übersinnliche Inhalte, die bis zuletzt Shigeru Mizukis künstlerisches Schaffen prägen sollten.

Einblicke in die vergangene Kultur des ländlichen Japans

Den Rahmen seiner Erinnerungen bildet das Leben im ländlichen Japan der 1930er Jahre. Die Moderne und ihre Innovationen kommen langsam auch hier an, doch noch prägt die Tradition den Alltag. So hat Shigerus Vater, ein künstlerisch veranlagter Mensch, einige Probleme, ein neumodisches Ding wie ein Kino im Dorf zu eröffnen. Die Kinder tragen teilweise noch Sandalen aus Holz und an die Existenz einer Untergrundbahn, wie sie neuerdings durch Tokio fährt, glaubt man noch nicht so recht.

Eine Ahnung von Weltkrieg liegt jedoch auch hier in der Luft. Die Jungen des Dorfes sind in Bandenkriege verwickelt, die stark militärische Strukturen nachahmen. Mizukis Anti-Kriegs-Haltung wird bereits offenbar, als er sich weigert, unnötige Kämpfe auszufechten, und er Frieden zwischen den verfeindeten Gruppen stiften will.

Einige Jahre später wurde Mizuki mit nur 21 Jahren in den Zweiten Weltkrieg eingezogen und verlor auf der Insel Neubritannien seinen linken Arm. Seine Erlebnisse verarbeitete er in dem oben erwähnten Anti-Kriegs-Manga „Auf in den Heldentod!“

Der Tod ist immer wieder Thema in Mizukis Kindheitserinnerungen. Eine Freundin stirbt an den Masern, eine andere an Tuberkulose – Krankheiten, die heute keine medizinische Herausforderung mehr darstellen. Auch Mizuki selbst verbringt einige Zeit in Todesangst, als er glaubt, durch übersinnliche Mächte ins Jenseits gezogen zu werden.

Seite aus „Tante NonNon“ (Reprodukt)

Ein einzigartiger Stil

Dass Mizukis Interesse für diese Stoffe durch Tante NonNon nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch geprägt wurde, zeigt sich in seiner offensichtlichen Lust an den Schock-Momenten, in denen die Menschen mit den oft furchtbaren Yôkai konfrontiert werden – wie sie auch mit Vorliebe in zahlreichen historischen Holzschnitten dargestellt sind. Künstlerische Darstellungen von Yôkai sind vor allem aus der Edo-Zeit (bis Ende des 19. Jahrhunderts) erhalten, als sie verbreitet Einzug in die Kunst fanden.

„Tante NonNon“ ist in Schwarz-Weiß gehalten, lediglich Titel und Prolog sind farbig. Der Bildrhythmus ist ausgeglichen und ruhig, auf große zeitliche oder räumliche Sprünge wird verzichtet. Dadurch sind erläuternde Texte meist nicht nötig und kaum zu finden.

Vor den realistisch ausgearbeiteten Hintergründen wirken die stark vereinfacht dargestellten Figuren mit ihren übertrieben großen Mündern und den typischen Manga-Schweißausbrüchen fast wie Karikaturen. Das verringert jedoch die inhaltliche Intensität kein bisschen – im Gegenteil: Die Erinnerung an vergangene Zeiten driftet nicht ab ins Wehmütige, sondern bleibt humorvoll, ohne komödienhaft zu werden. Mizuki ist die meisterhafte Verknüpfung von Information und Unterhaltung gelungen.

Verehrt wie ein Held

Die Yôkai als bedeutendes Kulturgut drohten angesichts der voranschreitenden Moderne in Vergessenheit zu geraten. Mizuki griff den Stoff auf und überführte die dämonischen Gestalten in das 20. Jahrhundert.

Ab 1959 wurde Mizuki durch seine Yôkai-Geschichten um den einäugigen Waisenjungen Jungen Kitarô in „GeGeGe no Kitarô“ in Japan sehr populär. Seit den 1960er Jahren wurden sie immer wieder filmisch umgesetzt und erreichen bis heute ein großes Publikum. Noch kurz vor seinem Tod veröffentlichte er eine Yôkai-Enzyklopädie.

In seiner Heimatstadt Sakaiminato wird Shigeru Mizuki für sein Werk wie ein Held gefeiert. Eine Straße, in der über 150 Figuren seiner Yôkai aufgestellt sind, wurde nach ihm benannt. Außerdem gibt es dort ein Mizuki-Museum.

Mizuki widmete sich auch in acht Bänden der japanischen Geschichte, für die er hoch ausgezeichnet wurde, und zeichnete eine Biografie über Adolf Hitler. Der dritte und abschließende Band von Mizukis autobiografischer Trilogie, „Kindheit und Jugend“, soll im April 2020 bei Reprodukt erscheinen.

Diese Kritik erschien zuerst am 10.02.2020 in: Der Tagesspiegel

Rilana Kubassa, geb. 1980, ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt als Journalistin, Autorin und freie Lektorin in Berlin. Ihre Texte über Comics erscheinen auch im Tagesspiegel und bei Closure.

Seite aus „Tante NonNon“ (Reprodukt)