Wir müssen uns Dagobert als glückliche Ente vorstellen

© 2020 Disney / Egmont Comic Collection

Für Donaldisten ist die Sache völlig klar: Was wir von Entenhausen wissen, wissen wir durch Carl Barks. Seine Comics bilden den Kanon und Bezugspunkt für jede Beschäftigung mit Entenhausen. Alle weiteren Entencomics gehen allenfalls als Folklore durch – nettes Anschauungsmaterial, aber von prekärem Status für die Geschichtsschreibung.

Für diese Ehrerbietung gibt es gute Gründe: Schon in der Zeit, als Disney-Comics nach Außen noch den Anschein erweckten, tatsächlich aus Walt Disneys Feder aufs Papier geflossen zu sein, dämmerte den Fans, dass daran etwas faul sein muss. Sie identifizierten den „guten Künstler“, den sie irgendwo in den Tiefen des Disney-Konzerns vermuteten: Seine Geschichten hatten einen eigenen Charme, einen eigenen Reiz, einen eigenen Strich.

Don Roas (Autor und Zeichner): „Don Rosa: Library Edition“. Bislang drei Doppelbände im Schuber.
Aus dem amerikanischen Englisch von Jano Rohleder. Egmont, Berlin 2020/2021. Je 424 Seiten. Je 70 Euro

Der Rest ist schöne Comicgeschichte: Wer als Entencomic-Fan etwas auf sich hält (und über die finanziellen Mittel verfügt), hat den philologisch längst erschlossenen Barks in der Gesamtausgabe im Regal.

Angeblich besaß Rosa jeden in den USA erschienenen Comic

Ist Entenhausen in Carl Barks’ Überlieferung somit erzählerisch abgeschlossen? Lange Zeit schien es so. Barks verabschiedete sich 1966 in den wohlverdienten Ruhestand und sonnte sich im späten künstlerischen Ruhm.

Entenhausen hingegen verwahrloste zum Schauplatz mal mehr, mal weniger netter Geschichten. Bis 1987 Don Rosa mit seinem ersten Dagobert-Abenteuer auf der Bildfläche erschien: „Das Gold der Inkas“ ist eine bis ins Detail als Barks-Hommage angelegte Abenteuergeschichte, die zeichnerisch an den großen Meister zwar nicht heranreichte, aber in Atmosphäre, Anspielungs- und Detailreichtum den glühenden Barks-Verehrer dahinter verriet.

Kein Wunder: Bis dahin war der sympathisch-kauzige Comicnerd mit seinem enzyklopädischen Wissen vor allem in der Fanszene in Erscheinung getreten. Seine Comicsammlung – zeitweise rühmte er sich, jeden in den USA erschienenen Comic zu besitzen – war Legende. In den 70ern gab er für ein Fanzine den Briefkasten-Onkel für knifflige Film- und Fernseh-Rechercheanfragen.

Seine Spezialität sind die großen Abenteuergeschichten

Seine große Leidenschaft aber waren die Comics von Carl Barks, in dessen Entenhausen er sich besser auskennen dürfte als in seiner eigenen Westentasche: „Es ist mein Schicksal, Dagobert-Comics zu zeichnen“, stellte sich der damals 35-jährige Bauingenieur beim Disney-Lizenznehmer Gladstone vor, hängte prompt seinen wenig geliebten Beruf an den Nagel und schuf bis zu seinem gesundheitsbedingt angetretenen Ruhestand im Jahr 2006 den wichtigsten Werkkorpus in der Entencomic-Welt seit Barks. Eine vom Meister noch mal durchgesehene „Library Edition“ erschließt dieses Werk nun auch in einer deutschen Ausgabe für den Hausgebrauch.

Bild aus „Don Rosa: Library Edition Bd. 1“ (© 2020 Disney / Egmont Comic Collection)

Das Besondere: Rosa nimmt Barks beim Wort, begreift Barks’ Entenhausen als ein verpflichtendes Erzähluniversum, in das er seine Geschichten einbindet. Seine Spezialität sind dabei die großen Abenteuergeschichten, die in entlegene Länder, mysteriöse Grotten und in die Welt des Mythos führen.

Rosas Comics bieten ein Wiedersehen mit dem Land der viereckigen Hühner, sie führen zurück an den Klondike, wo Onkel Dagobert einst nach Gold schürfte, und lassen liebgewonnene Barks’sche Nebenfiguren wieder auftreten: Nelly etwa, Dagoberts große Amour fou aus Goldrausch-Zeiten, oder den verrückten Professor von der Kohldampfinsel.

Eine Gagmaschine mit allerlei bizarrem Irrsinn

Bloßes Zitatewerk sind aber auch Don Rosas Comics nicht. Sie bersten zwar über vor Anspielungen, Filmzitaten und kleinen versteckten Ostereiern, aber wie schon bei Quentin Tarantino bilden auch hier die Zitate mehr als bloß die Summe der einzelnen Teile. Rosas Zeichenstil ist eigenständig und auf den ersten Blick erkennbar. Mit Vorliebe schraffiert er seine Figuren an, um Licht- und Schatteneffekte zu simulieren, die seine Enten plastischer erscheinen lassen.

Hinzu kommt seine Vorliebe für groteske Dynamiken, in denen er eine auf dem Kopf stehende Physik auf ihr Gagpotenzial hin durchdekliniert. Mal geht der Energieverlust bei Reibungen flöten, ein andermal steht die Gravitation im 90-Grad-Winkel und ein bei Dagobert eingeschmuggeltes Silbertablett soll der Hexe Gundel Gaukeley als Beamportal den Zugriff auf den berühmten Glückszehner des Fantastilliardärs bieten, was in Don Rosas gut geölter Gagmaschine zu allerlei bizarrem Irrsinn führt.

Vor allem aber bestechen Rosas Comics darin, wie sie Onkel Dagobert als Figur konturieren und mit Leben ausfüllen. Das popkulturell tradierte Bild vom herzenskalten Geizkragen (das schon bei Barks nicht immer zutreffend war) weicht auf, immer wieder gestattet Rosa Einblicke in die melancholische Epik, aber auch komische Tragik dieser Figur.

In der Geschichte „Der letzte Schlitten nach Dawson“ etwa kulminiert die Jagd nach einem zu Zeiten des Goldrauschs in der Einöde Alaskas zurückgelassenen Schlitten in eine Wiederentdeckung der verlorenen Zeit. Das letzte Bild zeigt Dagobert versonnen vor einem Himmelspanorama goldener Erinnerungen: Reminiszenzen eines geglückten Lebens. Wen das nicht anrührt, der mag einen Stein im Brustkorb tragen. Wir müssen uns Dagobert in seiner ewigen Hast nach dem nächsten großen Schatz als glücklichen Menschen, Pardon: als glückliche Ente vorstellen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 15.7.2020 in: Deutschlandfunk Kultur. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.