Dschungel mit Tiger, aber ohne Monster – Peter van Dongens „Rampokan“

In dieser Gesamtausgabe präsentiert Peter van Dongen eine ligné claire, aber wer sich auch eine klare moralische Position verspricht, wird von einer komplexen Geschichte überrascht werden.

Der auf Indonesien geborene Johan Knievel kehrt nach einem Studium in den Niederlanden zurück in seine Heimat. Indonesien war lange Zeit eine niederländische Kolonie, bis Japan im Zuge des Zweiten Weltkriegs 1942 das Land besetzte, um sich den Zugriff auf kriegswichtige Rohstoffe zu sichern. Nach der Kapitulation Japans im Jahr 1945 erklärte Indonesien sich für unabhängig, was zu einem Krieg mit den Niederlanden führte. Erst 1949 wurde der Konflikt beigelegt. „Rampokan“ spielt in den Jahren 1946 bis 1951, also zur Hochzeit des Konflikts zwischen japanischen Besatzern, niederländischen Kolonialisten und Militärs sowie indonesischen Unabhängigkeitskämpfern.

Wir Leser*innen begleiten Johan Knievel zunächst an Bord der Tegelberg auf der Überfahrt von den Niederlanden nach Indonesien. Eines Abends gerät er in einen Streit mit dem kommunistischen Erik Verhagen, der unter der Schiffsbesatzung nicht allzu viel Sympathie genießt. Nach einem Streit entbrennt ein Kampf zwischen Knievel und Verhagen, in dessen Verlauf Verhagen von allen anderen unbemerkt über die Reling stürzt und im Meer ertrinkt. Seinen Tod wird Johan als geheime Schuld fortan mit sich herumtragen.

Alle Abb. aus „Rampokan“ (avant-verlag)

In Indonesien angekommen lernen wir an Johans Seite die verworrene politische Situation mit den konkurrierenden Interessensgruppen kennen. Johan entkommt nur knapp einer Sprengfalle indonesischer Nationalisten, und sein Kamerad Frits de Zwart, der als Einziger um Johans Mitschuld am Tod Verhagens weiß, lässt sich von den Vorteilen des Schwarzmarktes überzeugen. Johan wiederum muss sich von Sergeant Jonker schikanieren lassen. Die vielen Akteure auf der indonesischen wie auch der niederländischen Seite mit je eigenen Interessen, Charakterzügen und Konflikten lassen keine geradlinige Handlung entstehen, sondern stellen ein komplexes und differenziertes Figurengeflecht dar – unmöglich, ein einfaches Urteil über moralische Überlegenheit zu fällen.

Durch die gesamte Story zieht sich das Motiv des gejagten Löwen, auf den schon der Titel verweist: „Rampokan“ wird die rituelle Tigerjagd (oder Pantherjagd) genannt, die in der indonesischen Kultur der Beseitigung des Übels dienen soll. Wer Jäger ist und wer die Beute, bleibt allerdings fraglich. Und wir alle wissen, dass diese Rollen auch wechseln können… Die immer wieder in einzelnen Panels oder Sequenzen eingefügte Jagd auf den Tiger entspricht auch der Selbstsuche des Protagonisten, der von Anfang an bemüht ist, die Stätten und Personen seiner Kindheit wiederzufinden. Je weiter seine Suche fortschreitet, umso mehr verliert er sich aber. Schließlich verschmilzt er mit dem ebenfalls in Indonesien geborenen Erik Verhagen. Er nimmt dessen Namen an und stellt sogar fest, dass dessen Brille ihm unerwartet gute Dienste erfüllt. Selbstsuche und Selbstverlust liegen nahe beieinander.

Die Geschichte wurde im niederländischen Original 1998 und 2004 in zwei Bänden veröffentlicht und erschien im Oktober 2008 beim avant-verlag ebenfalls in zwei Alben. Peter van Dongen hat diese Geschichte mit komplexen historischem Hintergrund mit einem Blick auf seine eigene Familiengeschichte erdacht. Er selbst wurde zwar 1966 in Amsterdam geboren, seine Mutter allerdings stammt aus Indonesien. Die Geschichte des Johan Knievel beruht lose auf der Biografie seines Großvaters Henri Johan Kneefel.

Peter van Dongen zeichnet im Stil der ligné claire, wenngleich nicht dessen berühmtester Künstler Hergé seine zentrale Inspiration ist, sondern Yves Chaland und dessen Freddy Lombard (vgl. ein Interview mit van Dongen). Hergé nimmt er allerdings doch nicht ganz aus der Pflicht, wenngleich eher einerseits inhaltlich und andererseits zur Abgrenzung: „‚Rampokan‘ is my answer to ‚The Blue Lotus‘. It’s a Tintin-style comic, ligne claire, but I’m telling quite a heavy story“. Ein wesentlicher Unterschied zu Hergé besteht in der Tat darin, dass Gewalt in „Rampokan“ einen viel größeren Stellenwert einnimmt. Durch die Schlichtheit der Zeichnungen sticht der Kontrast der dargestellten Grausamkeiten noch viel stärker hervor, etwa wenn Jonker die Leichen zweier Kinder schändet. Ein klares Gut-Böse-Schema wird man vergeblich suchen: Der Komplexität der historischen Wirklichkeit entsprechend gibt es verurteilenswerte Taten auf allen Seiten.

Wenn Johan nach dem Glück seiner Kindheit sucht, verkörpert von dem einheimischen Kindermädchen Ninih, wird seine Suche symbolisch zu einem Streben nach einem goldenen Zeitalter, das es natürlich niemals gegeben hat. Wenn eine Panelfolge zunächst das unbeschwerte Badespiel der Familie am Strand zeigt und dann nahtlos zur Wasserleiche Verhagens überblendet, wird klar, dass die Übel der Gegenwart und die Glorifizierung der Vergangenheit kaum mehr voneinander zu trennen sind. Wer warf in dieser Geschichte den ersten Stein? Kaum zu sagen, allerdings lässt van Dongen keinen Zweifel, dass am Ende überall die Fetzen fliegen. „Rampokan“ ist weniger ein Comic, der die indonesische Kolonialgeschichte historiographisch im Detail aufzuarbeiten versucht, sondern eher eine individuelle Selbstsuche in einem weltgeschichtlich komplexen Setting. Ein Dschungel mit Tigern, aber ohne Monster.

Ein besonderes Auszeichnungsmerkmal der Neuausgabe ist die Kolorierung. Waren die 1998 und 2004 veröffentlichten Originalausgaben im niederländischen Oog & Blik noch aus Kostengründen unter weitgehendem Verzicht auf eine Kolorierung erschienen und enthielten nur Sepia-Abtönungen, besticht die Gesamtausgabe durch eine zwar dezente, aber effektvolle Kolorierung von Marioes Dekkers und Peter van Dongen. Die Übersetzung von Jan Kruse wurde geringfügig überarbeitet, allerdings muss man schon eine ganze Weile suchen, um Unterschiede zu finden. Kurzum: Die Übersetzung von 2008 erfüllt offenbar noch immer die Ansprüche der Leser*innen. Für Besitzer*innen der beiden avant-Alben ist die Anschaffung also anzuraten, wenn die Neukolorierung, das reich illustrierte Nachwort von Eric Verhoest oder die Gestaltung als Hardcover ins Gewicht fallen.

Wer sich für den Arbeitsprozess von Peter van Dongen interessiert und mit dem 16-seitigen Anhang, der Aquarelle, Fotografien und Bleistiftzeichnungen enthält, noch nicht zufriedengestellt ist, kann sich das 2005 bei Oog & Blik in den Niederlanden veröffentlichte, aber leider im Handel vergriffene Sketchbook auf den Wunschzettel schreiben.

Peter van Dongen: Rampokan – Gesamtausgabe • Aus dem Niederländischen von Jan Kruse • avant-verlag, Berlin 2023 • 176 Seiten • Hardcover • 39,00 Euro

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.