„In der Traumdeutung, wie sie auf dem Balkan Tradition ist, bedeutet von Vögeln zu träumen, dass der Träumende Nachrichten erhalten wird“, erklärt Nina Bunjevac in ihrer autobiografischen Graphic Novel „Vaterland“ eines der Leitmotive. Der Leser trifft auf Blesshühner, die ihre Küken verhungern lassen, oder Krähen, die bedrohlich auf Stromleitungen verharren. In der Folklore des Balkans überbringen die Vögel meist schlechte Neuigkeiten, Nachrichten von Tod und Verrat, Krieg und Terror.
Die Familie Bunjevac, die Eltern Peter und Sally sowie ihre Kinder Petey, Sarah und Nina, führt ein Leben zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und Kanada. Nina wurde 1973 in Québec geboren, wie auch ihre beiden älteren Geschwister, hat aber den Großteil ihrer Kindheit und Jugend im heutigen Serbien nahe Belgrad verbracht. Seit 1990 lebt sie als Comiczeichnerin wieder in Kanada. Von dort nähert sie sich den Abgründen der eigenen Familie wie auch ihres europäischen Herkunftslands.
Ninas Vater Peter kam 1976 beim Bau einer Bombe ums Leben, die gegen jugoslawische Einrichtungen in Nordamerika zum tödlichen Einsatz kommen sollte. Nina Bunjevac war noch ein Kind, als die fatale Entscheidung ihres Vaters, seinem Hass auf Tito und das kommunistische Jugoslawien über Terrorakte Ausdruck zu verleihen, die Familie zerriss. Die Mutter ist seit dem Tod des Manns vor allem mit Verdrängungsprozessen beschäftigt.Gegen diese Verdrängung und das selektive Gedächtnis der Familie schreibt und zeichnet Nina Bunjevac an. Dabei ist sie in ihrer Auseinandersetzung mit den Konfliktlinien im ehemaligen Jugoslawien auf die Geschichtsschreibung angewiesen. Privat muss sie auf die Erzählungen ihrer Familienangehörigen zurückgreifen, die geprägt sind von verschütteter Erfahrung, persönlichen Enttäuschungen und politischen Positionierungen. Das Ergebnis ist ein „Augenzeugencomic“, der gleichzeitig diesen Anspruch zurückweist, ein schwarz-weißes Kunstwerk, das versucht, dem Schwarz-Weiß-Denken zu entkommen. So wird das doppelte Scheitern Nina Bunjevacs an der Geschichte – den Terrorakten ihres Vaters kann sie ebenso wenig einen Sinn oder eine Erklärung entlocken wie den ethnischen Konflikten ihrer europäischen Heimat – zu einem Glücksfall für die Comicgeschichte. Ihre Suche führt den Lesern die Schwierigkeit vor Augen, den subjektiv geprägten Blick auf Geschichte, die Weltgeschichte wie auch die persönliche, zu verlassen und neue Wege und Sichtweisen zu finden.
„Vaterland“ changiert ästhetisch zwischen „objektiven“ Bildern, die einem Geschichtsbuch entstammen könnten, und subjektiven Bildern aus der Erinnerung der Künstlerin. Ihren Vater Peter Bunjevac nimmt Nina dabei ebenso wenig in Schutz wie dessen nationalistische und antikommunistische Ideologie, sie macht aber deutlich, dass der Hass, der ihren Vater und seine Mitstreiter antrieb, auch eine Vorgeschichte hat.
Peter kam 1936 als Serbe im kroatischen Teil Jugoslawiens zur Welt, sein Vater wurde, nachdem die Deutschen 1941 Jugoslawien unter ihre Kontrolle gebracht und zerschlagen hatten, in einem Todeslager brutal ermordet, allerdings von seinen kroatischen Landsleuten und nicht von den Nazis.
Werkzeug der Manipulation
Nina Bunjevac führt dazu aus: „Der Terror der Jasenovac-Lager und die teuflische Behandlung seiner Insassen haben eine bleibende Spur im Kollektivgedächtnis der serbischen Minderheit hinterlassen. Die Furcht, dass sich dieser Abschnitt der Geschichte wiederholen könnte, schürte den Aufstand der kroatischen Serben in den frühen Neunzigern und wurde als Werkzeug der Manipulation und zur Verbreitung von Ängsten in den folgenden Jahren benutzt.“
Zur Illustration dieser Brutalität genügen Nina Bunjevac vier Panels, die Momentaufnahmen und Folterwerkzeuge zeigen. Kurz nach der Befreiung von den Deutschen und dem Neubeginn Jugoslawiens unter Tito stirbt Peters Mutter, der verstörte Jugendliche wird in eine Militärschule gesteckt. Nach Abschluss der Schule landet er wegen antikommunistischer Aktionen für drei Jahre im Gefängnis, nach der Entlassung emigriert er nach Kanada. Seine Frau Sally lernt er über eine Kleinanzeige kennen, für Peter verlässt die 17-Jährige Jugoslawien und ihre Familie. In Kanada pflegt Peter seinen Antikommunismus und serbischen Nationalismus, kommt in Kontakt mit anderen Exil-Serben, die ihn schließlich mit dem Terrorismus in Berührung bringen; ab Mitte der 1960er Jahre erschüttern mehrere Bombenanschläge auf jugoslawische Einrichtungen Nordamerika. Seine Frau rückt abends, aus Angst vor Titos Geheimdienst, Schränke vor die Fenster im Kinderzimmer. 1975 besucht sie mit den beiden Töchtern ihre Eltern in Jugoslawien – um nie wieder zurückzukehren. Ihren Sohn Petey hat sie zurücklassen müssen. Zwei Jahrzehnte, bevor der Krieg Jugoslawien auseinanderreißt, zerbricht die Familie Bunjevac unter der Last der Geschichte.Konfliktlinien
„Ich habe ausführlich die Geschichte dieser Region erforscht und versucht, den Grund des Konflikts zwischen Serben und Kroaten zu begreifen, aber je tiefer ich komme, desto geringer scheint die Zahl der belegten Konflikte zwischen den beiden fast identischen Gruppen zu sein; zumindest nicht vor dem 20. Jahrhundert“, schreibt Nina Bunjevac über ihre Spurensuche. Eine Antwort auf ihre Fragen bietet der Comic naturgemäß nicht. Doch er kann helfen, die Konfliktlinien nachzuzeichnen und auf unbeachtete Aspekte der verworrenen und tragischen Geschichte des Balkans hinzuweisen. In ihren Schwarz-Weiß-Zeichnungen findet Bunjevac Bilder für ihre eigenen ambivalenten Gefühle. Gerahmt wird „Vaterland“ dabei von einem Kunstgriff Bunjevacs, der so wohl nur im Comic möglich ist: Zu Beginn wird die Flucht der Mutter mit ihren beiden Töchtern geschildert, die Zweifel und Ängste, die die Mutter angetrieben haben, zum Ende des Comics werden die identischen Bilder benutzt, um die Sicht des Vaters zu beschreiben. Ihr Vater, der Terrorist, den sie nie wirklich kennenlernen konnte, hat, zeigt Nina Bunjevac, ebenfalls das Recht auf eine Perspektive; so falsch seine Entscheidungen und die tödlichen Konsequenzen, die er daraus zog, auch gewesen sein mögen. Wer diese Seite der Geschichte zu verdrängen versucht, wird daran scheitern, aus ihr zu lernen.
Dieser Text erschien zuerst in: Der Freitag 10/2015
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Vaterland“.
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.