Die Krise der amerikanischen Gesellschaft – „Ausnahmezustand“

Mark und Lisa sind nicht recht zufrieden. Mit ihrer Beziehung nicht und auch nicht mit ihrem Land. Beide sind glühende Anhänger von Bernie Sanders und enttäuscht, weil der die Vorwahlen verloren hat. Für die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton brennen sie nicht.

Diese Konstellation nimmt der US-Amerikaner James zum Ausgangspunkt für seinen Comic, in dem eine Familie danach strebt, ihr Leben zu verbessern. Ein Leben, das ihnen nach und nach entgleitet – im Privaten wie im Politischen.

Lisa braucht Abstand von Mark und dem anstrengenden Familienleben. Die Trennung wird von beiden nach allen Regeln der Vernunft vollzogen, mit Mediation, Therapie und schließlich mit Anwälten. Das Paar erlebt eine Krise, die stellvertretend für die amerikanische Gesellschaft steht. Mark will sich um seine Kinder kümmern – arbeitet als selbständiger Handwerker mehr, als ihm lieb ist, um alle Rechnungen bezahlen zu können. Und dann gerät er an einen Auftraggeber, der selbst auf großem Fuß lebt und seine Rechnungen nicht zahlt.

James Sturm (Autor und Zeichner): „Ausnahmezustand“.
Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt, Berlin 2020. 216 Seiten. 24 Euro

Zuverlässigkeit ist kein universeller Wert mehr in der amerikanischen Gesellschaft und dieser Werteverfall bedroht sein Leben empfindlich: Weil ein Scheck platzt, wird der Judounterricht der Tochter nicht bezahlt. In der Schule fehlen immer wieder Unterschriften. Lisa ist sauer und will Mark die Kinder entziehen. Sie kann gelassener mit der Situation umgehen, der Stress, mit dem Mark die ganze Zeit leben muss, ist ihr fremd – schließlich sind ihre Eltern wohlhabend.

James Sturm zeichnet die Geschichte von Mark und Lisa schwarz-weiß und in strengem Format – immer zwei Bilder auf einer Seite, so als ob das auseinanderbrechende Leben durch diese Strenge zusammengehalten werden soll.

„Ausnahmezustand“ kommt wie eine universelle Geschichte daher – auch weil die Figuren nicht menschlich sind, sondern aufrecht laufende Hunde. Vor allem Mark wirkt wie ein erwachsen gewordener Snoopy. Nur dass Mark die ganze Zeit furchtbar angestrengt und müde wirkt.

Die amerikanische Gesellschaft lebt permanent im Ausnahmezustand – das macht der Comic von James Sturm auf jeder Seite deutlich: Immer wieder ist die Existenz bedroht, das Privatleben leidet und dann muss auch noch die Fassade eines gelungenen Lebens gewahrt werden.

Unter diesen Umständen ist es kaum möglich, politisch aktiv zu sein. „Wenn du nicht für Hillary stimmst, stimmst du für Trump!“, schimpft Marks Tochter Suzie einmal von der Rückbank. Mark wird nicht einmal mehr die Kraft zum Wählen haben – so wie viele Amerikaner.

Das war, als es noch keine Corona-Pandemie gab. Wenn im November wieder die Wahlen anstehen, ist noch mehr Ausnahmezustand.

Hier gibt es ein Interview mit James Sturm.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 07.10.2020 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Ausnahmezustand“ (Reprodukt)