Millieustudie vom Deutschland der neunziger Jahre – „Monster“

Es geht um einen japanischen Neurochirurgen – Dr. Tenma, der das Leben eines Jungen rettet und dafür seine Karriere aufgibt. Denn eigentlich hätte Tenma statt des Jungen den Bürgermeister von Düsseldorf operieren sollen. Aus dieser Grundsituation entwickelt Urasawa einen Thriller, denn der Junge wird später zum Serienmörder. Dr. Tenma versucht ihn zu finden und zu stellen, weil er sich verantwortlich fühlt, schließlich hat er den Täter gerettet. Und zugleich wird er zum Gejagten, weil er in Verdacht kommt, selbst der Serienmörder zu sein. Damit beginnt eine Jagd durch ganz Deutschland, die bis nach Prag führt.

Naoki Urosawa (Autor und Zeichner): „Monster Perfect Edtion. Band 1 & 2“.
Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Carlsen, Hamburg 2019. 428/404 Seiten. Je 20 Euro

Ein Klassiker, der es mit aktuellen Netflix-Serien aufnehmen kann

Diesen Stoff entwickelt Urasawa auf mehr als 2.000 Seiten. Das war in den Neunzigern spektakulär – und kann immer noch mit aktuellen Netflix-Serien mithalten: Da werden mehrere Handlungsstränge kunstvoll miteinander verwoben und es gibt eine große Anzahl unterschiedlicher Protagonisten.

Der komplexen Handlung kann man auch deshalb gut folgen, weil Naoki Urasawa seinen Protagonisten ganz markante Gesichter gibt: Dr. Tenma hat weiche Züge und eine Strubbelfrisur. Sein Verfolger, Inspektor Runge vom BKA sieht mit hochgezogenen Augenbrauen und durchdringendem Blick teuflisch aus. Und Johann, dem Dr. Tenma als Kind das Leben gerettet hat, sieht so gut aus, dass man gar nicht glauben kann, dass er ein kaltblütiger Mörder ist. Auch auf der Bildebene spielt Naoki Urasawa also mit unseren Vorstellungen von Gut und Böse.

Ein Thriller in pittoresker Kulisse

Für die Recherche zur Geschichte ist Naoki Urasawa mehrere Wochen in Deutschland gewesen. Es ist verrückt, wie pittoresk er zum Beispiel die Altstadt von Heidelberg mit all ihren Fachwerkhäusern zeichnet. Urasawa zeichnet einen Thriller in eine Kulisse, die für ihn als Tourist interessant ist. Außerdem recherchiert er DDR-Geschichte und lässt die einfließen. Und er sieht Dinge in Deutschland, die damals gar nicht so präsent waren: das Erstarken der Neonazi-Szene zum Beispiel, mit Brandanschlägen gerade auch in West-Deutschland. Urasawa hat Deutschland in den neunziger Jahren nicht als Land gesehen, das nach der Teilung wieder zusammenwächst, sondern als ein Land im Umbruch, mit all den Verwerfungen, die das mit sich bringt.

All das erzählt Urasawa wie bei einer Serie in Episoden, die er ungeheuer spannend und abwechslungsreich gestaltet: Mal steht Dr. Tenma kurz vor der Verhaftung und dann ist die ganze türkische Community in Frankfurt am Main bedroht, weil rechte Verschwörer einen Brandanschlag auf ein ganzes Viertel verüben. Das zeichnet Naoki Urasawa so kunstvoll und rasant, dass man am Ende einer Seite die schlimmste mögliche Wendung befürchtet und schnell weiterblättern muss.

Der Manga „Monster“ ist wirklich der absolute Pageturner. Und es ist eine hervorragende Millieustudie vom Deutschland der neunziger Jahre.

Hier gibt es ein Interview mit Naoki Urasawa, hier eine Kritik zur Anime-TV-Serie.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 04.02.2020 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Monster“ (Carlsen Verlag)