Im Weltraum hört dich niemand weinen

Schöne neue Welt? Weder schön noch neu. Dafür kalt und künstlich. Denn seit die Erde nicht mehr bewohnbar ist – man hat hier einmal mehr ganze Arbeit geleistet –, leben die verbliebenen Menschen auf einer gigantischen Raumstation, die den immerhin noch blauen Planeten umkreist. Und das schon eine ganze Weile. Die Station, die das Ausmaß einer Großstadt umfasst, wurde gebaut von einem Konzern namens Tianzhu Enterprises. Tianzhu beherrscht die Station, sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich und politisch. Der Konzern ist allgegenwärtig, greift in jeder Beziehung in das genau getaktete Leben der Bewohner ein. Die hausen in winzigen, wabenähnlichen Wohnungen, die kaum mehr als Platz zum Schlafen bieten. Ansonsten werden die Menschen mit der neuesten Technik auf Trab gehalten. Ständig neue Geräte regen per mantraartig wiederholter Werbung zum Konsum.

Mathieu Bablet: „Shangri-La“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 224 Seiten. 39,80 Euro

Scott Peon arbeitet für die Konzernleitung. Er soll merkwürdige Explosionen in externen Forschungsstationen untersuchen. Bald schwant Scott, dass diese offenbar mit einem ehrgeizigen Langzeit-Projekt Tianzhus zusammenhängen: Seit 300 Jahren betreibt man auf dem Saturnmond Titan Terraforming, um eine erdähnliche Atmosphäre zu schaffen. Doch damit nicht genug. In einer dortigen Gegend, die man Shangri-La nennt, soll eine neue Menschenspezies angesiedelt werden, die man „Homo Stellaris“ tauft. Keine Klone, vom ersten Atom an soll diese Art praktisch aus dem Nichts neu geschaffen werden. Und dazu müssen die Tianzhu Wissenschaftler mit Antimaterie experimentieren, was sich als eine lebensgefährliche und hoch explosive Angelegenheit entpuppt.

Schon der Beginn von „Shangri-La“ deutet an, dass hier storytechnisch ein monumentaler Bogen gespannt wird. Und man wird nicht enttäuscht. Das Finale ist maximal fulminant, nur um dann wieder – wie der Anfang – ganz anders auszuklingen. Dazwischen kreiert Autor und Zeichner Mathieu Bablet mit seiner ersten deutschsprachigen Veröffentlichung eine faszinierende und originäre Science-Fiction-Story, die vielschichtig und vollgepackt ist mit aktuellen politischen Themen. Zuerst zeigt er eine eingelullte Gesellschaft, die unter einer „sanften“ Diktatur, wie es einmal heißt, geführt wird. Das Konsumverhalten wird unterschwellig gelenkt und soll von der alltäglichen Tristesse ablenken. Man kauft die neuesten Geräte, die eigentlich kein Mensch braucht (Apple-Fans kennen das). Alle tragen die gleiche Kleidung. Die „Wohnungen“ sind ein Witz und platzsparend in den Zwischenebenen angelegt. Die intelligenten „Tiermenschen“, Animoiden genannt, sind offenem Rassismus ausgesetzt und bleiben folglich unter sich.

Doch die buchstäblich geschlossene Gesellschaft bekommt erste Risse. Widerstand formiert sich unter der Führung eines mysteriösen Mister Sunshine. Man will die Allmacht Tianzhus nicht mehr hinnehmen. Zu der Aktivistengruppe gehört auch Scotts Bruder Virgil. Doch Scott, bisher linientreu, zeigt sich immun für dessen Argumente. Bis schockierende Enthüllungen seine unverrückbaren Ansichten in den Grundfesten erschüttern. Der Mensch spielt Gott, macht sich die Schöpfung zu eigen. Kann das gutgehen? Und benötigt die Rest-Menschheit, die auf limitiertem Raum zusammenlebt, eine autoritäre Führung, die für sie auch das Denken übernimmt? Mathieu Bablet stellt philosophische und ethische Fragen, die er im Fortgang der Geschichte auch beantwortet.

Mathieu Bablet präsentiert die Tianzhu-Station in akribischen Details. Lange Gänge, sich ständig wiederholende, funktionale Architektur aus kaltem Stahl steht für die Tristesse, der die Menschen täglich ausgesetzt sind, die dann durch Konsum kompensiert wird. Auch die Raumschiffe und die Roboter-artigen Raumanzüge sind originell wie detailreich ausgeführt. Wortreiche Passagen wechseln sich ab mit dialoglosen Szenen, dazwischen gähnt immer wieder die leere Schwärze des Alls. Auch die Farbgebung, die sich aus Variationen des jeweils gleichen Farbtons zusammensetzt, vermeidet alles Bunte und unterstützt die kalte Atmosphäre, zu der ab und an die blaue Erde einen Kontrast setzt. An die Darstellung der Gesichter muss man sich jedoch gewöhnen. Die zeichnet Bablet schematisch, fast holzschnittartig in einem ureigenen Stil. Was der Faszination dieses gewaltigen Werks aber keinen Abbruch tut.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Shangri-La“ (Splitter Verlag)