Kanada gilt als vorbildliches Einwanderungsland, weil Menschen aus anderen Ländern dort schnell integriert werden. Das gilt auch für die kanadische Zeichnerin gg, deren Eltern aus Asien immigriert sind. Trotzdem fällt es ihr nicht leicht, ein eigenes Leben zu führen. Wie es ihr ergeht, erzählt sie auf außergewöhnliche Art in „Wie Dinge sind“.
Eine junge Frau dreht ihr Haar zu einem Dutt, zupft eine Strähne zurecht, lässt sich auf ihr Bett nieder und greift zu einem Buch von Ferdinand Pessoa. „Leben heißt, ein anderer zu sein“ – dieses Zitat aus Pessoas „Buch der Unruhe“ steht unter einem der Bilder, auf dem die Silhouette der Protagonistin wie in einem Scherenschnitt gezeigt wird.
Staunend liest sie ihr Buch. Und tatsächlich könnte sie eine andere sein – eine der vielen anderen jungen Hipster, die ihr Haar zum Dutt drehen und intellektuelle Bücher lesen. Dass sie so austauschbar wirkt, liegt an dem extrem reduzierten Stil, mit dem die kanadische Comiczeichnerin gg „Wie Dinge sind“ erzählt: Alle Figuren und Dinge sind ausschließlich in Grau- und Weiß-Tönen erzählt, die alles flach erscheinen lassen – als hätte nichts und niemand eine Identität.Die Protagonistin geht raus in die Stadt und fotografiert. Sie möchte die Dinge festhalten, wie sie sind, erklärt sie mit knappen Worten einem Obstverkäufer, dessen Trauben sie fotografiert. Kann man das Wesen der Dinge verstehen, wenn man sie in einem einzigen Moment fotografisch abbildet?
Es geht um Identität in diesem Comic. Und es geht um die ganz besondere Situation von Menschen mit Migrationshintergrund. Das wird im Comic zunächst nur an winzigen Details deutlich: die Pflasterpackung der Mutter trägt asiatische Schriftzeichen. Auch dass die Protagonistin ihre gebrechliche Mutter und den dementen Vater pflegt, ist ein Hinweis – weil sie nicht loslassen kann von ihren Eltern, die so viel für sie möglich gemacht haben. So ähnlich hat es die Zeichnerin gg selbst erlebt.
Die Suche nach Identität erzählt gg in vielen kleinen Episoden, die sich wie Schlaglichter aneinanderreihen. Da ist der Vater, der mit seinem Auto in der Nachbarschaft steht, weil er nicht mehr weiterweiß. Die Mutter, die Vorhaltungen macht, weil die Tochter immer noch keine Familie gegründet hat.
Als die Protagonistin zufällig eine Frau fotografiert, die ihr ähnlich sieht, stellt sie sich vor, sie würde deren Leben führen, unabhängig sein, eine eigene Wohnung haben, reisen. Dann erscheinen Bilder aus der Kindheit. Da ist ein Mädchen zu sehen, dem die kleinsten Wünsche verwehrt werden, weil sie zu teuer sind. Oder das Mädchen, wie es am Fenster turnt, als sei ihm ihr Leben egal. Die Mutter will dagegen vor allem eins: bloß nicht auffallen.
Die kanadische Comiczeichnerin gg hat einen sehr persönlichen, poetischen Comic über das Ankommen bei sich selbst und in einem fremden Land gezeichnet. Ein Comic, der wie ein Bewusstseinsstrom erzählt ist: sprunghaft – und voller Erkenntnismomente, weil er nicht rational analysiert, sondern einen Zugang zu den Gefühlen schafft.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 04.11.2020 auf: kulturradio rbb
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.