ICOM Preis 2020: Die Gewinner*innen

Gestern wurden die diesjährigen Preisträger*innen des ICOM Independent Comic Preises auf der ICOM-Website bekannt gegeben. Die vierköpfige Jury bestand diesmal aus den beiden Comic-Fachjournalisten Sabine Scholz („Animania“, „Der Tagesspiegel“) und Martin Jurgeit („Buchreport“, „die neunte“) sowie dem Künstler und Independent-Verleger David Füleki und der langjährigen Leiterin des Fumetto-Festivals und heutigen Carlsen-Redakteurin Sabine Witkowski.

 

Bester Independent Comic (Selbstveröffentlichung)

„Utille!“
von Hannes Stummvoll

Die abgeschlossene Science-Fiction-Fantasy-Geschichte von Hannes Stummvoll, die zunächst online in Episoden als Webcomic und später im Eigenverlag in gedruckter Form in sechs Bänden erschienen ist, entführt das Lesepublikum in eine fantastische Welt bevölkert von seltsamen Kreaturen. Die mutige, unangepasste Heldin Mara stellt die Lebensweise ihrer Gemeinschaft infrage, deren Heimat, der kokonartige Hort hoch oben in den Wipfeln schnell wachsender, gigantischer Bäume, einem mysteriösen Kreislauf von Zerstörung und Wiedergeburt unterworfen ist. Sie setzt sich über die geltenden Konventionen hinweg, findet Verbündete wie Nektarproduzentin Sash und macht schließlich eine unglaubliche Entdeckung. Hannes Stummvoll, für den „Utille“ das erste Comic-Projekt ist, geleitet den Leser mit lockerem, durchaus noch ein wenig unstetem, sanftem Strich durch das spannende, runde Abenteuer. Die zarte, harmonische und doch kraftvolle Farbgebung, die fremdartigen Lebewesen auf dem unbekannten Planeten und die unwirklichen, organischen Environment-Designs atmen den Geist von Genregrößen wie Moebius und der japanischen Anime-Hits aus dem Hause Ghibli, allerdings arbeitet der „Utille“-Zeichner sehr viel reduzierter. Mit einer starken, kritischen Heldin, der später die zweite weibliche Hauptfigur zur Seite gestellt wird, sowie vielen anderen glaubwürdigen Charakteren wie dem spirituellen Oberhaupt der kleinen Gemeinschaft, einem utopischen Zukunfts-Setting und der ruhigen, eindringlichen Bildsprache konnte das Comicdebüt „Utille“ die Jury von sich überzeugen und wird mit dem Preis in der Kategorie Bester Independent-Comic (Selbstveröffentlichung) prämiert.
Sabine Scholz

 

Bester Independent Comic (Verlagsveröffentlichung)

„Prinz Gigahertz!“
von Lukas Kummer
(Zwerchfell Verlag)

Was ist das eigentlich? Zunächst erscheint Prinz Gigahertz wie ein pulpiger Remix vom Einstieg in Stephen Kings „Dunkler Turm“-Reihe. Elemente aus ritterlichen Helden-Sagen, angesiedelt im postapokalyptischen Wasteland. Zukunftstechnologie, die als schwarze Magie fehlinterpretiert wird. Verstrahlte Mutanten, die die Orks ihrer Generation sind.

In diesen Mix packt der Österreicher Lukas Kummer einen ordentlichen Batzen cyberpunkiges Retro-Trash-Flair, das aktuell höher denn je im Kurs steht. Man spürt beim Lesen regelrecht den Synthwave-Bass durch die Adern pulsieren. Auch die Farben scheinen durch ein Raumzeit-Portal direkt aus den Achtzigern in diese schmucke Hardcover gepurzelt zu sein. Dabei füllen sie flächig, kaum schattiert, aber konstrastreich-effektiv ein klares Lineart und codieren sogar pfiffig verschiedene Erzählebenen, so dass es den Lesenden immer leicht fällt, sich in der zunehmend komplexeren Story zurechtzufinden. Der Tuschestrich (bzw. vermutlich Fineliner-Strich) vereint viel Spaß an Geometrie und klarer Bild-Komposition mit einer teils recht radikalen optischen Reduktion, die hin und wieder aufgebrochen wird, um mit detailreicheren Highlight-Panels umso mehr zu überraschen. Man fühlt sich an die Adventure-Time-Schule erinnert, die im deutschsprachigen Raum recht viele Künstlerinnen und Künstler aus der jungen und wilden Graphic-Novel-Szene geprägt hat.

„Prinz Gigahertz“ ist also vieles, vor allem aber ein runder, unterhaltsamer Comicband, der einfach hervorragend funktioniert. Pulpig, aber nicht blöd. Reduziert, aber künstlerisch stark. Ein Remix zahlreicher bekannter Versatzstücke, aber mit kreativen Einzelszenen. Ein Comic-Highlight des Jahres, mit dem man sich unbedingt das Bücherregal veredeln sollte – sofern das Bücherregal nicht unter der Vibration des Retro-Synthwave-Basses zusammenkracht!
David Füleki

 

Bester Independent Comic (Sonderpreis)

„Björn Eichenwicht und der immergrüne Wald“
von Korinna Seidel und Adrian Richter
(Zwerchfell Verlag)

Den Sonderpreis für eine besondere Publikation vergeben wir diesmal an den spannenden und spaßigen Edutainment-Rätsel-Comic „Björn Eichenwicht und der immergrüne Wald“ von Adrian Richter und Korinna Seidel, erschienen im Zwerchfell Verlag. Der schmale Softcover-Band mit der klassischen Heldenfigur und den farbenfrohen, charmanten Zeichnungen ist ein märchenhafter Einstieg in die Welt der Comics für Groß und Klein und überzeugte die Jury mit seiner altersgerechten Zugänglichkeit, seinem Einfallsreichtum und der Erzähl- und Zeichenfreude. Um Kinder für die Welt der Comics zu begeistern und die Leserschaft von morgen zu gewinnen, bedarf es genau dieser Faktoren. Die einfache, kurze Geschichte ist leicht verständlich und bedient sich altbekannter Märchen- und Kinderbuchmotive, die auch die jüngere Zuhörerschaft bei der Stange halten. Die gut lösbaren, teils durchaus komplexen Einsteiger-Rätsel holen wiederum Leseanfänger und sogar ältere Knobel-Fans ab, sodass Björn Eichenwicht die ganze Familie zusammenbringt. Für eine eventuelle Fortsetzung wünschen wir uns für den mutigen, kleinen Eichenwicht Björn, der in diesem ersten Abenteuer eine verlorene Eichel sucht und Bekanntschaft mit Grauhorn, dem alten Feind der Wichte, macht, viele neue interessante Feuertaufen und vielleicht ein paar weniger althergebrachte Rollenmodelle. Nichtsdestotrotz möchten wir mit diesem Sonderpreis einen außergewöhnlichen, märchenhaften Mix aus Comic und Rätselbuch für die Allerkleinsten würdigen, der gekonnt die derzeit populäre Knobel-Lektüre mit fröhlicher Erzählkunst kombiniert. Wir gratulieren zu dem gelungenen interaktiven Coming-of-Age-Abenteuer!
Sabine Scholz

 

Nominiert für den ICOM-Preis waren außerdem:

„Business Worm“
von Tim Gaedke
(Verlagsveröffentlichung: Jaja Verlag)

Die Comics von Tim Gaedke kann man immer mitnehmen! Seit über einem Jahrzehnt liefert er Kurzgeschichten, die die deutsche Comiclandschaft um viele kreative Einfälle und teils bizarre, teils emotionale Wendungen bereichern. Irgendein besonderer Schnack ist da immer! Bisher gab’s die Sachen vom Tim in der Regel als Teil von Anthologien (wie JAZAM! oder das von ihm mit verursachte MONDO, das sich sehr schlecht googeln lässt, weil alles auf der Welt „Mondo“ heißt) oder noch kultiger: als winzige Copyshop-Hefte! Und die Kürze ist sein Metier!

Nun kommt aber mit dem Business Worm plötzlich ein richtig dickes Buch um die Ecke! ABER: Im Herzen ist auch dieser Ausflug in die Welt der wirbellosen Kleinlebewesen, die eine Menschengesellschaft aufgebaut haben, eine kurze Geschichte mit der klassischen gaedke’schen Schlusspointe.

Denn viel passiert eigentlich nicht innerhalb des guten Zentimeters Buchdicke. Aber hierin liegt wiederum der bereits angesprochene gaedke’sche Schnack. Der Comic ist so ökonomisch wie sein stets beanzugter Protagonist. Aufgeräumt, oderntlich, um das Einhalten von alltäglichen Mustern bemüht. Wir befinden uns schnell im Murmeltiertag-Modus. Wurm-Anekdoten aus dem Büro, der Bar und von Zuhause scheinen sich peinlichst genau zu wiederholen. Ein guter Business Worm bleibt in der Bahn, bleibt innerhalb der Norm. Tag für Tag. Effizienz. Weitermachen! Egal, was da ist. Und da ist etwas. Die gaedke’sche Schlusspointe … Und die muss nicht immer lustig sein. Nicht mal in einer Welt, in der eine Gottesanbeterin mit Headset mit Aktien handelt.
David Füleki

 

„El Herpez“
von Michael Hacker
(Selbstveröffentlichung)

Ich weiß nicht, ob ich diese Laudatio schreiben sollte, denn ich bin befangen! Seit vielen Jahren bin ich großer Fan des Österreichers Michael Hacker. Sein trashig-naiver Underground-Stil, bei dem jeder schwungvolle Pinselstrich auf den Punkt genau richtig ist, sowie eine mutig plakativ-unkonventionelle Farbgebung machen mich immer wieder froh. Seine Motive verstören mich immer wieder nachhaltig. Große Emotionen! Große Kunst! Tatsächlich vielleicht der stilistisch souveränste Künstler unter all denen, die dieses Jahr etwas eingereicht haben. Und dann auch noch eine Geschichte über einen Lebensmittelkontrolleur, der eine Herpes-Superkraft bekommt! Was kann da noch schiefgehen?

Doch natürlich muss ich als Juror objektiv bleiben und tatsächlich ist Kritik wie Herpes  sie kommt irgendwann. Und sie kommt ganz gewiss! Zum Beispiel am Tag der eigenen Hochzeit … egal!

Teil 1 der geplanten Reihe hat alles, was man von einem guten Hacker erwartet – vor allem viel Gehacktes! Hier darf ohne metaphorischen dreifachen Boden wild drauflos geschnetzelt werden! Eine eklige Schlachtplatte, die in ihrer liebenswerten Trashigkeit erfreulich leicht verdaulich ist. „El Herpez“ macht Spaß! Und wenn man sich schnell ekelt, macht es sicher auch ein wenig Herpes! Doch es ist auch (noch) keine Vollwertkost. Viel Sättigungsbeilage für den schnellen Splatter-Jieper. Aber von der nahrhaften Storywurst wurden bisher nur ein paar dünne Scheibchen abgeschnitten. Die machen Appetit auf mehr, aber darauf müssen wir wohl noch ein Weilchen warten. Im Nachwort berichtet Michael Hacker über den langen Weg zum ersten Heft, und wir können nur hoffen, dass die Arbeit am Nachfolger genauso flutscht, wie die geheime Burgersoße aus der Chicken-Schnell-Restaurant-Szene.
David Füleki

 

„Der Jas Bd 1. Rache“
von Jean-Louis Schlesser und Marc Angel
(Verlagsveröffentlichung: WEEERD im Verlag der Ideen)

Er ist der Schrecken, der plötzlich über uns kommt. Er ist der Horror, der in den Schatten lauert. Er ist bösartig, grausam und erbarmungslos. Er hasst die Obrigkeit, aber auch das gemeine Volk. Seine Wut ist grenzenlos und seine Opfer sind zahllos. Aber wer war er wirklich? Woher kamen seine übernatürlichen Kräfte? Dies ist die Geschichte von dem, den sie den Jas nannten:

Einst lag im Brunnen eines alten Gehöfts in den Ardennen ein Schatz verborgen. Untrennbar mit ihm verbunden lauerte die ruhelose Seele des gierigen, gotteslästerlichen und unersättlichen Jas in der Tiefe. Das Böse ist unruhig und wartet voller Zorn auf eine Gelegenheit, in unsere Welt zurückzukehren.

 

„Rabenfluch“
von Lian
(Selbstveröffentlichung)

Der Independent-Manga von Lian ist sehr aufwändig in Eigenproduktion entstanden und erzählt von einem ungleichen Paar, das die Not aneinanderschweißt. Die traditionelle Fantasy-Boys-Love-Liebesgeschichte zwischen einem eigenbrötlerischen Hexer und einem verwöhnten Königssohn wurde sehr detailverliebt und sorgfältig zu Papier gebracht. Die Zeichnungen sind routiniert. Das klassische Erzählmuster und die Stilistik entspricht den bekannten japanischen Vorbildern inklusive gängiger Genrekonventionen hinsichtlich Situationskomik, das Charakterdesign und die Verwendung von Stilelementen wie Chibis und Maskottchen. Letzteres ist allerdings mal kein niedliches, flauschiges Pelztier, sondern eine Ente!
Sabine Scholz

 

„Shoot-Up-Hill“
von maleek
(Selbstveröffentlichung)

Ein junger introvertierter Mann mit Migrationshintergrund zieht in den Schmelztiegel London, versucht, seinen Platz zu finden, wird Rikscha-Fahrer und – aufgrund mysteriöser Umstände – Ornithologe. Die Tauben scheinen verrückt zu spielen! Aggressiv und brutal gehen sie aufeinander los.

In der Tat sind die „geflügelten Ratten“ die wahren „Helden“ dieses Comics. Mit einem hervorragenden Blick für die Tiere drängt Autor maleek ebendiese realitätsnah in die Panels, macht sie zu narrativ vollwertigen Bewohnern der Stadt und gibt ihnen zudem eine manchmal vielleicht zu offentsichtliche Rolle als Metapher für unser aller Mitmenschen. Band 1 liefert einen in seiner Zurückhaltung erstaunlich stimmungsvollen Einstieg in die geplante Trilogie. Auch wenn die eigentlichen Alltags-Erlebnisse unseres menschlichen Protagonisten recht banal scheinen, kann man sich empathisch gut in die Rolle des Neuen in einer schnellen, hektischen und schroffen Umgebung einfühlen. Und das – nur scheinbare? – Mysterium rund um die Tauben macht definitiv neugierig.

Band 2 legt stark nach mit einem Sachbuch-artigen Prolog über das Sozialleben der modernen Stadttaube, zerfasert allerdings im folgenden Verlauf etwas, bietet uns die bevorzugte Lesart der zentralen Metapher zu deutlich an und lässt zunehmend den Wunsch nach einer greifbaren Story aufkeimen. Man darf aber gespannt sein, wie maleek sein urbanes Vogel-Epos mit dem nächsten Band abrundet.
David Füleki

 

„Und wenn die Wahrheit mich vernichtet“
von Drushba Pankow
(Verlagsveröffentlichung: Pallotti Verlag)

„Auf der Lagerseite, wo ich arbeite, ist eine Epidemie ausgebrochen und damit sie nicht weiter um sich greift, sind wir gänzlich isoliert worden … Sonst sieht es recht schlimm bei uns aus. Die Leute sterben in Massen, weil sie vollständig ausgehungert sind … Ein grauenhaftes Bild.“ (Richard Henkes)

Eindrücklich und lebendig erzählt Drushba Pankow den Lebensweg des Pallottiner-Paters Richard Henkes als Graphic Documentary. Auf der Grundlage historischer Geschehnisse und überlieferter Briefe von Richard Henkes schildern die Illustrationen beinahe filmisch seinen Weg zum Märtyrer der Nächstenliebe. Er sagte, was nicht mehr gesagt werden durfte, wurde verhaftet und ins KZ Dachau deportiert. Als Ende 1944 im Lager eine Flecktyphus-Epidemie ausbrach, meldete er sich freiwillig für die Pflege der Kranken, infizierte sich dabei und starb am 22. Februar 1945. Am 15. September 2019 wurde Pater Richard Henkes SAC im Limburger Dom seliggesprochen.

 

„Zur Sonne“
von Sascha Herrmann, Nina Hoffmann, Katja Klengel (Texte)
und Matthias Lehmann (Text und Zeichnungen)
(Selbstveröffentlichung)

Trister grauer Alltag, der ewig gleiche Trott und Dinge, die man vor sich herschiebt – all das bringen die Macher von „Zur Sonne“ auf den Punkt. Die Geschichte von Sascha Herrmann, Nina Hoffmann, Katja Klengel und Zeichner Matthias Lehmann erzählt von einem Kneipenbesitzer, der schon lange den Ausstieg plant, letztlich jedoch nicht den letzten Schritt geht. Seine Stammgäste sind für ihn zur Familie geworden. Eine bizarre Familie, deren Probleme mitten aus dem Alltag gegriffen sind und die doch so realitätsfern scheinen. Die eigene Tochter sieht der Barbesitzer hingegen viel zu selten. „Zur Sonne“ geht der Frage nach, was im Leben zählt, wie wichtig Entscheidungen sind und was uns letztlich ausmacht. In einem sehr reduzierten, flatterhaften Tusche-Aquarell-Stil wirft der Titel einen ehrlichen, unverstellten und voyeuristischen Blick in die Mitte der Gesellschaft.
Sabine Scholz