Ein japanischer Anime schaut in deutsche Abgründe

© Madhouse

Stell dir vor, du bist ein talentierter Arzt. Mehr noch: Ein begnadeter Neurochirurg am Anfang deiner Karriere. Eines Nachts kommen zwei Fälle in dein Krankenhaus. Einer davon ist der Bürgermeister der Stadt, ein wichtiger Mann. Doch weil der kleine Junge mit dem Kopfschuss ein paar Minuten früher ankam, hältst du dich an die Gepflogenheiten und operierst zuerst ihn. Der Bürgermeister stirbt. Du rettest den kleinen Jungen, der sich jedoch wenig später als skrupelloser Serienkiller entpuppt. Das ist das Szenario, mit dem „Monster“ beginnt. Und danach wird alles nur noch komplizierter.

Aber von vorn. „Monster“ ist ein Manga des Zeichners Naoki Urasawa („20th Century Boys“), erschien ursprünglich zwischen 1994 und 2001 im japanischen Manga-Magazin „Big Comic Original“ und räumte mehrfach Preise ab. Ab 2002 wurde die Geschichte in 18 Bänden auch in Deutschland veröffentlicht. Die düstere, eher an Erwachsene gerichtete Story hatte beim tendenziell recht jungen deutschen Mangapublikum allerdings nur mäßigen Erfolg, weshalb „Monster“ hierzulande immer eher den Charakter eines Geheimtipps beibehielt.

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Ab 2004 wurde „Monster“ schließlich vom japanischen Animationsstudio Madhouse als Anime adaptiert. Masayuki Kojima („Made in Abyss“) führte Regie bei den 75 Episoden und als Animator war unter anderem Kitarō Kōsaka beteiligt, der zuvor an zahlreichen Produktionen des Studio Ghibli gearbeitet hatte. Der talentierte Gehirnchirurg Dr. Kenzo Tenma arbeitet 1986 in der Serie sowie in der Comicvorlage an einer Düsseldorfer Klinik, als er mit dem eingangs beschriebenen Dilemma konfrontiert wird. Eine regelrechte Schnitzeljagd durch Mitteleuropa beginnt — denn nicht nur will Tenma den Jungen finden, er gilt auch als verdächtig selbst der Serienkiller zu sein.

Spricht man heute von Graphic Novels einer- und Fernsehserien andererseits, die sich an den erzählerischen Konventionen und psychologischen Tiefen von Romanen orientieren, so müsste man „Monster“ in seinen beiden Erscheinungsformen im Grunde als einen Prototypen dieses Phänomens betrachten. Manga und Anime lassen sich Zeit um darüber nachzudenken, wer hier das eigentliche Monster ist. Wieso jemand dazu wurde, in welchem sozialen Umfeld er sich so entwickeln konnte und was wir als Gesellschaft überhaupt als monströs wahrnehmen. Im Zuge dessen lernen wir aber nicht nur Dr. Tenma und seinen Gegenspieler kennen. Ganz im Gegenteil: Gelegentlich verschwindet Tenma auch für eine Handvoll Episoden aus der Handlung. Immer wieder tauchen dafür neue, liebevoll ausgestaltete Nebenfiguren auf und wie die einzelnen Episoden als kleine Fenster fungieren, die es erlauben, deren Schicksale in den Blick zu nehmen, hinterlässt zuweilen den Eindruck, es bei „Monster“ mit einer Anthologie eigenständiger Kurzfilme zu tun zu haben.

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Besonders faszinierend an der Tatsache, dass „Monster“ in Tschechien, kurz in Südfrankreich und zu weiten Teilen in Deutschland angesiedelt ist, ist die Detailversessenheit der Zeichnungen. Die Hintergründe von Manga und Anime sind längst nicht nur generische Straßenzüge, die gefühlt nach Deutschland passen würden. Dank erstaunlicher Akkuratesse sind stattdessen die Fassaden des Frankfurter Bahnhofsviertels wiederzuerkennen, die Fachwerkhäuser in der Innenstadt von Heidelberg oder die altehrwürdigen Gebäude der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Die Bilder bleiben aber nicht nur touristische Kulisse. Vielmehr hat es Urasawa geschafft, darin etwas von der gesellschaftlichen Stimmung, vom Zeitgeist Deutschlands in den 1990er Jahren einzufangen. Konkret thematisiert er im Plot die Nachwirkungen der deutschen Teilung. Und er zeigt die Lebensbedingungen und den Alltag der vietnamesischen und türkischen Einwanderer und ihrer Nachkommen — genauso wie den Rassismus, der sich gegen sie entlud (und nach wie vor entlädt). Es mag einem für einen Moment absurd erscheinen, wenn eine Gruppe Nationalsozialisten, die sich in der Tradition Hitlers sehen, in einer Folge einen Brandanschlag auf das von vielen Türken bewohnte Frankfurter Bahnhofsviertel planen. Doch dann denkt man an Rostock-Lichtenhagen 1992 und schluckt schwer.

Für Freunde des Mangalesevergnügens gibt es an dieser Stelle eine gute Nachricht: Der Carlsen-Verlag legt derzeit die komplette Reihe in Softcover-Doppelbänden neu auf. Wesentlich schwieriger wird es da schon für all jene, die den Anime sehen wollen. In Deutschland ist er derzeit nirgends legal zum streamen verfügbar. Und das, obwohl die Streaming-Services zuletzt auch hierzulande ihr Angebot an Animes im Film- und Serienformat erweitert haben. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig als zu warten — und laut kundzutun, wie relevant und aktuell „Monster“ auch im Jahre 2020 ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 20.10.2020 auf: kino-zeit.de

Hier gibt es ein Interview mit Naoki Urasawa, hier eine Kritik zur Manga-Serie.

Monster
Japan 2004-2010 (75 Episoden)

R: Masayuki Kojima, Ryôsuke Nakamura – B: Donald Roman Lopez, René Veilleux, Ryôsuke Nakamura – P: Masao Maruyama, Joshua Lopez

Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.