Schlechte Kindheit

Wyoming, Fort Laramie, 18. Juli 1868. Ambrosius van Deer reist mit seiner Tochter Cathy eigens aus Kansas an, um die Spur seines verschwundenen Neffen Edwin aufzunehmen, der vor Jahren von Lakota-Sioux entführt wurde. Der windige Jess Chisum behauptet, den Knaben aufgefunden zu haben und legt als Beweis eine Uhr vor, in der sich eine Fotografie der getöteten Eltern findet, die Ambrosius tatsächlich wiedererkennt. In einer Hütte im Wald präsentiert Chisum den angeblichen Findling, aber Deer scheint andere Absichten zu haben: Gemeinsam mit seinem Spießgesellen Cole bringt er Chisum um und will sich auch seines vermeintlichen Neffen (und unliebsamen Erben) entledigen, als der wild protestierend schwört, das Ganze sei nur ein Trick, um die Belohnung zu kassieren. In Wahrheit ist er Natt Chisum, den sein Vater zu dieser Scharade angestiftet hat. Im folgenden Handgemenge erschießt der kleine Natt sowohl Cole als auch Ambrosius vor den Augen der entsetzten Tochter Cathy.

Jean van Hamme (Autor), Grzegorz Rosinski (Zeichner): „Western“.
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 72 Seiten. 19,80 Euro

Zehn Jahre lang driftet Natt umher, bevor er 1879 nach Wichita reitet, um sich dort bei der örtlichen Bank als Wachmann anstellen zu lassen. Natürlich führen ihn diverse Hintergedanken in die Stadt – immerhin hat die Erbin Cathy van Deer unweit mittlerweile eine riesige Rinderzüchtung aufgebaut -, aber seine Schießkünste lassen ihn bei einem abgewehrten Banküberfall rasch zum Helden avancieren. Sehr zum Ärger des örtlichen Sherriffs Slade, der mit diversen Lumpensöhnen um den berüchtigten Bandenboss Bass unter einer Decke steckt. Bald kreuzen sich die Wege von Chisum und der als „Cattle Kate“ bekannten reichen Rancherin, was in einer unweigerlichen Katastrophe endet…

Dieser opulente One-Shot des kreativen Duos Jean van Hamme (u. a. „XIII“, „Hopfen und Malz“) und Grzegorz Rosinski (bewährt im Zusammenspiel dank „Thorgal“, wo es die beiden auf 29 Bände bringen), der bereits 2001 entstand und nun von Splitter eine Neuveröffentlichung erfährt (nach der Erstausgabe 2001 bei Schreiber & Leser/Alles Gute!), überzeugt sowohl durch inhaltliche Dichte als auch ausschweifende künstlerischen Gestaltung. Die Story rankt sich um die historische Tatsache der nicht seltenen Kindesentführungen, mit denen die bedrängten Ureinwohner die Moral ihrer Kolonialisten zu schwächen versuchten und die sich als Leitmotiv durch die Filmgeschichte ziehen, angefangen von John Fords legendären „Searchers“ („Der schwarze Falke“, 1956) bis hin zu jüngeren Beiträgen wie „The Missing“ (2003) mit Tommy Lee Jones.

Van Hamme allerdings reichert diese Grundidee um zahlreiche Windungen an, die seiner Agenten-Reihe „Largo Winch“ alle Ehre machen würden und die vor allem am Ende in einen zutiefst bitteren, fast schon nihilistischen Twist münden, der das gesamte Geschehen schlagartig in einem pechschwarzen Licht erscheinen lässt. Fast noch beeindruckender als die beklemmende, stoisch vorgetragene Geschichte erscheint die Gestaltung, die Rosinski in Pastelltönen hält, in denen das Blut in den Schießerei-Szenen den einzigen grellen Farbtupfer liefert. Besonders eindrucksvoll geraten dabei die doppelseitigen Panoramen, die jeweils die einzelnen Erzählabschnitte abtrennen und wie in sich geschlossene Kunstwerke wirken. Umso folgerichtiger ist es da, dass Splitter dem Band einen durchaus gelungen Kunstdruck beifügt, auf dem sich der kleine Natt mit seinem Trapper durch den verschneiten Wald pirscht. Packend, erschreckend und beeindruckend und somit ein furioser Beitrag zur Genre.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

Seite aus „Western“ (Splitter Verlag)