Es geschieht in Filmen nicht oft, dass die Hauptfigur noch vor dem Vorspann ihr Leben lässt. In „Soul“, dem allerneuesten Artefakt des umtriebigen Animationsstudios Pixar, wird der Protagonist, der soeben erst eingeführte New Yorker Aushilfsmusiklehrer und Jazz-Liebhaber Joe Gardner, bereits in den ersten Minuten dem Dasein entrissen. Und der Zuschauer wird gleich mit mehreren Welten bekannt gemacht, durch die er in den folgenden knapp 100 Minuten bei relativ hoher Schnittfrequenz navigiert wird: erstens ein detailverliebt entworfenes New York, das den nostalgischen Charme von Filmklassikern wie „Frühstück bei Tiffany“ und „West Side Story“ verströmt und das nicht ohne Grund stark dem New York der sechziger Jahre ähnelt; zweitens ein Jenseits, in das die Verstorbenen nach ihrem Tod per Laufband, wie man es von Flughäfen kennt, transportiert werden; und drittens ein sogenanntes Davorseits, eine Mischung aus Ferienlager und Trainingszentrum für ungeborene, noch eigenschaftslose Existenzen, ein Ort, an dem liebevoll durchnumeriert jene „Seelen“ existieren, die noch in keinen menschlichen Körper gefahren sind, weil sie dazu hier, im Davorseits, erst von sogenannten Mentoren – sagen wir – ausgebildet werden müssen. Als Mentoren wiederum fungieren verdienstvolle Personen der Weltgeschichte, die die „Seelen“, die als kleine, teletubbieartige Wesen dargestellt und ebenso ahnungslos wie possierlich sind, anleiten und zu einem gelingenden Leben auf der Erde „inspirieren“ sollen.
Für Joe, der besessen ist vom Pianospielen, sind – mitten in seinem unspektakulären Leben – soeben überraschenderweise gleich zwei Wünsche auf einmal in Erfüllung gegangen: Nicht nur wurde ihm verkündet, dass er von der Aushilfs- zur Vollzeitlehrkraft befördert werden soll, inklusive aller sozialen Absicherung, die damit verbunden ist. Es ist ihm auch gelungen, einen lange erstrebten Bühnenauftritt zu ergattern: Er soll am Abend bei einem Konzert im legendären Jazz-Club The Half Note seine Lieblingsmusikerin begleiten – inklusive der Option, als dauerhaftes Bandmitglied aufgenommen zu werden. Ein Lebenstraum, der wahr werden würde.Doch weil Joe vor lauter Aufregung über sein neu gewonnenes zweifaches Glück kopflos durch die Straßen New Yorks rennt und dabei in einen tiefen Schacht fällt, kommt alles anders: Er findet sich in einem schwarzen Nichts auf besagtem Laufband wieder. Gemeinsam mit anderen soeben Verstorbenen fährt er auf ein hell erstrahlendes Etwas zu: das Jenseits. Dort aber möchte Joe partout nicht hin: „Ich habe ein Konzert! Ich kann jetzt nicht sterben!“
Joe wird in der Folge natürlich ein gewaltiges Abenteuer erleben. Unter anderem wird er im Davorseits Seele 22 kennenlernen, ein wunderbar misanthropisches und auch sonst erfrischend lebensfeindliches Ekelpaket, das zu nichts Lust hat und sich schon lange erfolgreich und standhaft weigert, zu irgendetwas „inspiriert“ zu werden. Ghandi und Mutter Teresa haben sich an ihm bereits die Zähne ausgebissen.
Animationstechnisch werden in „Soul“ alle Register gezogen, wie bereits im letzten Film Pete Docters („Inside Out“, 2015), dem man hierzulande den ebenso schwachsinnigen wie irreführenden Titel „Alles steht Kopf“ gegeben hat und in dem bereits Immaterielles und Abstraktes wie Gefühlsregungen, das Vergehen der Zeit oder existentielle Sinnfragen in farblich berauschende Bildwelten übersetzt wurden.
Schon die ersten Töne und Bilder lassen erkennen, dass man es bei „Soul“ mit einer Hommage an den Jazz der fünfziger und sechziger Jahre und an die afroamerikanische Musik- und Popkultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun hat: An den Wänden tauchen etwa die Plattencover alter Jazz-Vinylklassiker und Schwarz-weißfotografien auf, die an die Bilder des Blue-Note-Fotografen und Jazz-Enthusiasten Francis Wolff erinnern.Und natürlich haben wir es, wie immer bei Disney / Pixar, mit einem perfekten Märchen zu tun, einem von der Sorte, die Marketingtrottel und das ihnen angeschlossene Feuilleton – Zweckfreiheit der Kunst hin, Unterhaltungsindustrie her – gerne einen „Feelgood“-Film nennen. Ein sehr komischer zwar, aber auch einer, der notorisch wie brachial Lebensmut und Optimismus vermittelt und einschlägige Kalenderspruchlebensweisheiten anbietet. Bei der „Zeit“ ist man nach der Filmsichtung entsprechend begeistert: „Man … horcht dem eigenen Atem hinterher, riecht einen Imbissduft und freut sich einfach, dass das alles da und nicht nichts ist – komme, was da wolle.“ Zugegeben, das hört sich nach dem üblichen, durchstandardisierten Disney-Kitschprogramm an, und zweifellos ist es das an nicht wenigen Stellen auch – bis hin zum unvermeidlichen Happy End, das man schon ahnt, bevor der Vorspann zu Ende ist. Doch gleichzeitig ist „Soul“ auch ein originelles, elegantes, modernes Gegenstück zu den stets gleich gebauten sentimentalen Schnulzen und Konfektionserzählungen des im schlechtesten Sinne konservativen Mutterkonzerns Disney, eines Unternehmens, bei dem man annehmen muss, es sei ihm von jeher daran gelegen, jeden Funken Originalität zu ersticken und alles am Leben als ungustiös Geltende (die Endgültigkeit des Todes, die Allgegenwart von Gewalt und Schmerz, Körperlichkeit und Sexualität) aus seinen Produktionen auszublenden.
Der Film, der ursprünglich im vergangenen Jahr in Cannes seine Premiere haben und im Sommer 2020 in die Kinos kommen sollte, ist die erste Pixar-Produktion mit einer schwarzen Hauptfigur (sowie mehreren schwarzen Nebenfiguren) und eine außergewöhnlich turbulente, rasend geschnittene, vor visuellem Einfallsreichtum nur so strotzende Komödie, die vehement darauf besteht, dass das menschliche Leben nicht sinnlos ist. „Soul“ will den Zuschauer bezaubern, ihn daran erinnern, dass es auf unserer Welt, auf der es zuweilen recht trostlos zugeht, zahllose große und kleine Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt. Zum Beispiel Pizza.
Diese Kritik erschien zuerst in: Konkret 02/2021
Soul
USA 2020 – 100 min.
Regie: Peter Docter – Drehbuch: Peter Docter, Kemp Powers – Produktion: Dana Murray – Musik: Trent Reznor, Atticus Ross – Verleih: Disney – FSK: ohne Altersbeschränkung – Start: 25.12.2020 auf Disney+
Thomas Blum, Jahrgang 1968, arbeitet seit 1999 als freier Autor. Von 1999 bis 2011 war er in der Redaktion der Wochenzeitung Jungle World tätig. 2011 bis 2020 war er Redakteur der Tageszeitung Neues Deutschland. Seit 2020 ist er Kulturredakteur beim Monatsmagazin Konkret.