Dass Staaten und Behörden grimm entschlossen sein können, Unruhestifter und Abweichler, Außenseiter und Störenfriede radikal bis final zu disziplinieren, ist wahrlich nichts Neues unter der Sonne. Das ist nicht schön, aber nun mal das Rohmaterial, aus dem Kriminal-Narrative entstehen. „Matter“ von Reto Gloor (1962-2019), revidiert von Markus Kirchhofer (Edition Moderne), eine doppelte Jubiläumsausgabe zum 200. Geburtstag von Bernhart Matter und zu 40 Jahren Edition Moderne, die aus den beiden Bänden „Matter“ und „Matter entzweit“ von 1992/1993 besteht, ist ein Paradebeispiel für Überwachen und Strafen.
Bernhart Matter war ein notorischer Kleinkrimineller aus dem Aaargau, der sich meistens mit Beschaffungskriminalität, später, nachdem er sich ein bisschen an bescheidenen Wohlstand gewöhnt hatte, auch mit Hochstapelei, Heiratsschwindel und Betrug mehr schlecht als recht durchs Leben schlug, aber immer wieder auf die Schnauze fiel. Von Freunden verraten, durch eigene Blödigkeit ertappt, durch Prahlerei und Saufgelage sich selbst zum Obst gemacht – ein lupenreiner Loser. Aber kein Gewalttäter, niemand ist je bei seinen Untaten zu körperlichem Schaden gekommen. Und wenn er Beute (so richtig groß abgegriffen hat er auch nie, meistens Kleinkram und ein paar Franken) gemacht hatte, immer bereit, sie mit seinen Kumpanen zu verjubeln oder aber armen Leuten ein paar Wohltaten zukommen zu lassen. Das hatte ihm zwar ex post eine gewisse Legendenbildung als Robin Hood eingebracht, aber eigentlich ging es ihm nur darum, aus der engen Schweiz nach Amerika zu kommen (Ironie des Schicksals: Als er es fast auf einen Dampfer geschafft hätte, diagnostizierte man bei ihm eine „geheime Krankheit“, vermutlich einen Tripper oder so, den er sich kurz vor der Abreise in Paris zugezogen hatte, ach je.) Ein Talent hatte er jedoch: Er war ein begnadeter Ausbrecher, es gab kein Gefängnis, keine Zelle, keinen Kerker, aus dem er nicht entkommen konnte. Und das tat er denn auch, wieder, wieder und wieder. Die Behörden drehten am Rad. Und schlugen zurück: Sie verurteilten ihn zum Tode und schickten ihn am 24. Mai 1854 tatsächlich aufs Schafott. Eine Art erzieherische Todesstrafe. Das war selbst im 19. Jahrhundert für Schweizer Verhältnisse ein Skandal und löste dann eine Art Strafrechts- und Gefängnisreform aus, immerhin.Reto Gloor hat in seinem Comic für diese finstere Geschichte die entsprechend finstere Bildsprache entwickelt – holzschnittartige s/w-Panels, die bittere Armut, beklemmende Enge, verwahrloste und verrottete Verhältnisse, Kälte, Matsch und Schlamm geradezu ausdampfen. Die Bilder, die mit historischen Anmerkungen und Materialien wie Briefe durchsetzt sind, lassen niemals einen Zweifel zu, dass diese Geschichte nicht gut enden wird und erzeugen einen Sog, der direkt in den Abgrund führt. Kein Hoffnungsschimmer am Horizont, keine Erhabenheit der Landschaft, nichts. Das ist ganz große Comic-Kunst, wuchtig und auch fast 30 Jahre nach ihrer Entstehung so wirkmächtig wie damals. Und aktuelle Dimensionen – ja, klar, die sind evident.
Diese Kritik erschien zuerst in: Leichenberg 02/2021 auf kaliber .38
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.