„Mies unternahm alles in seiner Macht stehende, um sich bei den Nazi-Eliten lieb Kind zu machen“

In Deutschland kaum bekannt, ist der frühere Architekt Agustín Ferrer Casas schon seit Jahren eine feste Größe in der spanischen Comiclandschaft und hat sich in seinen Comics u. a. schon mit Mahatma Gandhi auseinandergesetzt. In „Mies“ kehrt er zu seinen Architekturwurzeln zurück. Wir präsentieren das Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags.

© Agustín Ferrer Casas / Carlsen

Sehr geehrter Herr Ferrer, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns über ihre Comicbiografie „Mies“ zu sprechen. Die Lebensgeschichte des berühmten deutschen Architekten Mies van der Rohe ist Ihre erste deutsche Publikation. Können Sie uns eingangs ein bisschen über sich selbst und Ihren Werdegang verraten? Wie sind Sie zum Comiczeichnen gekommen und wann hatten Sie sich entschieden, Ihren Lebensunterhalt als Comiczeichner zu bestreiten?
Ich wurde 1971 im spanischen Pamplona geboren, die Stadt ist vor allem bekannt für Ernest Hemingway und seine Teilnahme an den dortigen „San Fermin“-Stierläufen, die er im Roman „Fiesta“ verewigt hat. Als Kind war – und das hatte ich sicherlich mit jedem anderen Comiczeichner in spe auf dem Planeten gemein – keine bemalbare Oberfläche vor mir und meinen Buntstiften sicher. Später leitete ich meine kreativen Energien auf ein gesellschaftlich anerkannteres und besser vergütetes Feld um: Ich studierte Architektur. Während des Studiums wurde ich, mit 22 Jahren, durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner Bildsprache auf das Comic-Medium aufmerksam. Bis dahin hatte ich mit Comics nicht viel am Hut gehabt, außer der Lektüre der frankobelgischen Klassiker. Aber etwas hatte mich da gepackt und ich fing an, diese Welt für mich zu entdecken. Vor allem durch Arbeiten von Künstlern wie Moebius, Enki Bilal, Howard Chaykind, Charles Schulz, Miguelanxo Prado, Matthias Schultheiss, Alan Moore, Alberto Breccia, Tanino Liberatore, François Schuiten…

In Folge versuchte ich mich selber als Zeichner und reichte eine kürzere Comicerzählung bei einem Wettbewerb ein. Die Story kam gut an und so zeichnete ich als Autodidakt weiter an kürzeren Comicerzählungen und nahm an Comic-Wettbewerben teil, während ich Architektur studierte, später in einem Architekturbüro arbeitete und an der Universität von Navarra unterrichtete. Über den Zeitraum von 25 Jahren sammelten sich so über 30 Comic-Auszeichnungen bei mir an.

2011 gab ich die Architektur endgültig auf (oder zumindest dachte ich das zu dem Zeitpunkt) und begann meine Comiczeichner-Laufbahn, die ich bis dahin eher als Hobby betrachtet hatte, zu professionalisieren. Bis heute habe ich drei Bücher zusammen mit anderen Autoren veröffentlicht, und fünf weitere, bei denen ich Autor und Zeichner war.

Agustín Ferrer Casas (Autor und Zeichner): „Mies“.
Aus dem Spanischen von André Höchemer. Carlsen, Hamburg 2019. 176 Seiten. 20 Euro

Biografien von Künstler*innen, Politiker*innen und anderen historischen Figuren sind ein beliebtes Thema im Comic. Was macht das Comicmedium so attraktiv, um die Lebensgeschichten von berühmten, kulturell einflussreichen Menschen zu erzählen? Und was zeichnet Ihrer Meinung nach eine gute Biografie aus?
Comics vereinen die narrativen und visuellen Möglichkeiten der Literatur und des Films, haben aber auch nur dem Medium eigene Charakteristika und Merkmale. Für mich ist der Comic dadurch nicht nur ideal, um die Lebensgeschichten von interessanten historischen Persönlichkeiten zu erzählen, sondern im Grunde jedes Thema zu vermitteln und jedes Genre zum Leben zu erwecken. Biografien in Comicform zu erzählen, hat den Vorteil, dass man den Leser*innen seinen Gegenstand in verkürzter, übersichtlicher Form (wenn man als Autor in der Lage ist, aus der dargestellten Lebensgeschichte die eindringlichsten und eindrücklichsten Momente zu destillieren) und mit Unterhaltungswert (wenn man in der Lage ist, kurzweilig und spannend zu erzählen) vermitteln kann. Es hilft, wenn man pädagogische Erfahrung hat. Denn Wissen lässt sich immer besser vermitteln und auch abspeichern, wenn man weiß, wie man es unterhaltsam und strukturiert verpackt. Egal ob man eine Klasse unterrichtet oder im Fall von „Mies“ eine mehr oder weniger fiktionalisierte Biografie erzählt.

Wenn man sich mit dem Leben eines Menschen beschäftigt, dann muss man sich natürlich an konkreten, verbrieften Fakten orientieren, aber auch an Anekdoten, die freier interpretierbar sind und in verschiedene Richtungen führen können. Die Richtung, die man dann einschlägt, muss man ausbauen, um nicht zu sagen ausschmücken und sie verbessern, soweit es der Narration dient. In diesem Sinne ist der wirkliche Mensch in deiner Erzählung nicht mehr er selbst, sondern eine fiktionalisierte Version, von der Vision eines Regisseurs/Autors geformt zur Hauptfigur in einem Stück, das sein Leben repräsentiert. Damit das gelingt, muss der Autor für seinem Gegenstand emotional stark verbunden sein, ihn lieben oder ihn gar hassen. So schafft man aus dem Abbild wieder einen Menschen, mit dem sich die Leser*innen identifizieren können. Als Biograf sollte man unparteiisch bleiben, aber auch nicht neutral, wenn das dargestellte Verhalten die eigene Vorstellung von Moralität verletzt. Schließlich sagt die Biografie genauso viel über den Menschen aus, dessen Leben verhandelt wird, wie über den Biografen selbst.

Seite aus „Mies“ (Carlsen)

Im Nachwort Ihres Buchs schreiben Sie, dass Ihre Erzählung ihre Entstehung einem Artikel über Mies von der Rohe aus der Feder der spanischen Architektur-Journalistin Anatxu Zabalbeascoa verdankt. Warum hat sie der Artikel so eingenommen und motiviert, sich mit dem Leben und Werk von Mies von der Rohe auseinandersetzen?
Bevor ich den Artikel 2014 gelesen hatte, hatte ich eine vage Vorstellung von den mehr oder weniger unerfreulichen Aspekten von van der Rohes Privatleben. Diese Schattenseiten muss man natürlich immer im historischen Kontext sehen. Aber auch so hatte ich nach der Lektüre des Artikels das Gefühl, dass ich bei weitem nicht der einzige bin, der Schwierigkeiten hatte, bei der Betrachtung von Mies van der Rohes Lebenswerk diese zwei Seiten miteinander zu vereinbaren: Mies, der brillante Kopf und die Ikone der modernen Architektur, und Mies, der makelbehaftete Privatmensch mit der moralisch verwerflichen Vergangenheit. Es schienen Welten zwischen diesen zwei Menschen zu liegen… Natürlich ist Mies van der Rohe in dieser Hinsicht nicht alleine auf weiter Flur. Viele Künstler, die wir verehren, Picasso, Neruda, von Karajan, waren privat keine Sympathieträger. Aber mir scheint, als könnte ich Mies‘ Schwierigkeiten, sein Privatleben, all die guten und schlechten Entscheidungen, die er im Laufe seines Lebens getroffen und mit seinem Berufsleben verbunden hat, besonders gut nachvollziehen – auch wenn ich mich natürlich nicht auf eine Stufe mit ihm stellen kann…

Mies‘ Lebensgeschichte ging einher mit der turbulenten ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, die ihm, wie bei vielen anderen seiner Generation, ihren Stempel aufgedrückt hat. Er erlebte den Großen Krieg und die verheerenden Folgen, die er für Deutschland nach sich zog. Wie viele andere brach er mit den Werten der Vergangenheit, die diesen Krieg verursacht hatten. Er verkehrte in den Kreisen der Dadaisten, wandte sich der Avantgarde zu und entwickelte sie in seinem Werk beständig weiter. Diese Zäsur zeitigte sich nicht nur in seiner Arbeit, sondern auch in seinem Privatleben. Er brach mit seiner Familie. Später aber, als die Weimarer Republik durch die Machtergreifung der Nazis ausgelöscht wurde, zögerte er nicht, sich den neuen Machthabern anzudienen, um seine Karriere voranzutreiben. Auch wenn ihm das nicht viel nutzte. Die Nazis hassten ihn, weil er der staatlich verordneten Architekturlinie konträr entgegenstand. Trotzdem war er einer der letzten deutschen Künstler und Intellektuellen, die ins Exil flohen. Er brach seine Zelte erst ab, als seine berufliche Zukunft in den USA gesichert war. Vielleicht erhoffte er sich bis zuletzt, dass sich die Meinung der Naziführung seiner Arbeitet gegenüber irgendwann noch ändert. Als er dann schließlich ins Exil ging, überließ er seine frühere Geliebte, Partnerin und Weggefährtin Lilly Reich ihrem Schicksal.

All die Entscheidungen, die er in seinem Verlangen zu bauen und künstlerische (und vielleicht auch persönliche) Freiheit zu erlangen traf, trieben ihn immer wieder dazu, zwischenmenschliche Bindungen aufzugeben. „Ich bin keiner von diesen Leuten, die nicht ohne andere Menschen leben können“, soll er gesagt haben. Lange Rede, kurzer Sinn – ich wollte nicht nur seine Verdienste und sein Werk, das meiner Erzählung als roter Faden dient, behandeln, sondern ihm auch als Menschen nachspüren, mit all seinen Widersprüchen, Licht- und Schattenseiten.

Seite aus „Mies“ (Carlsen)

Was sind für Sie die großen Verdienste von Mies van der Rohe, welche Bedeutung hat er für uns und unser Verständnis von Architektur?
Mies‘ Werk, zusammen mit dem des Schweizer Architekten Le Corbusier und des Amerikaners Frank Lloys Wright, stellt das Fundament für die Baukunst der Moderne dar. Von den drei visionären Vordenkern der Moderne ist Mies sicherlich der rationalste. Auf ihn geht unser heutiges Verständnis von Wolkenkratzern und des kontemporären Minimalismus in der Architektur zurück. Seine Entwürfe, allesamt echte Design-Klassiker, wurden bis zum Umfallen kopiert.

Seine Baukunst postuliert Ideen wie Nutzungsflexibilität, das Zusammenspiel des Interieurs des Bauwerks mit seiner Umgebung durch Transparenz und Helligkeit des Baumaterials, eine fast besessene Beschäftigung mit dem Detail, bis dieses so schlicht wie wunderschön wird. Mies hatte eine tiefe spirituelle Ader und entwickelte für sich seine besondere Art von Stoizismus, aufgrund seiner lebenslangen Beschäftigung mit Philosophie. Diese Weltsicht schlug sich auch in seinen Entwürfen nieder. Sie wirken organisch, weil sie uns wie natürlich ansprechen. Als Menschen fühlen wir uns zur Schlichtheit, zur Ordnung hingezogen, zu einem spirituellen Leben, das im Einklang mit sich selbst zu sein scheint. Dafür steht die Architektur von Mies. Mit dem absoluten Minimum wird das absolute Maximum erreicht. Weniger ist mehr…

Wie war denn Ihre persönliche Sicht auf Mies‘ Werk? Hat sich durch Ihre langwierige Auseinandersetzung mit ihm im Vorfeld des Buchs Ihre Einstellung zu seinem Wirken gewandelt?
Die Beschäftigung mit Mies in meiner Studienzeit war rein akademischer Natur – als Vorbild, nach dem man strebt, als Lehrerfigur und als Referenz für meine eigenen Entwürfe. Mit ihm als Privatmenschen wollte ich mich damals als junger Student (wie vieler meiner Kommilitonen auch) nicht auseinandersetzen. Man wollte sich selbst seiner Helden nicht berauben… Man muss natürlich sagen, dass viele der eingangs erwähnten Architekten, die der Nachwelt ebenfalls ein beindruckendes Werk hinterlassen, sich in ihrem Privatleben aber auch nicht mit Ruhm bekleckert haben. Aber Mies übertrumpft sie in dieser Hinsicht alle… Nach dem Studium blieb Mies bei mir, irgendwo in der hinteren Ecke in meinem studentischen Unterbewusstsein und wartete auf diesen einen großen Moment. Es kann durchaus sein, dass meine Arbeit als Architekt Spuren der Mies‘schen Design-Philosophie trägt, aber ich könnte nicht konkret benennen, welche.

Als ich anfing, hauptberuflich als Comickünstler zu arbeiten, erreichte mich von vielen Leser*innen das Feedback, dass sie die Darstellung von Architektur in meinen Comicgeschichten ansprach. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die sich mit dem Wesen der Architektur auseinandersetzt. Das brachte mich immer zurück auf Mies. Ich fing an, über sein Lesen zu lesen und sehr schnell wurde mir klar, dass darin eine spannende Geschichte steckte. Ich stieß auf den Artikel von Anatxu Zabalbeascoa und zufälligerweise trat ein Freund zur selben Zeit an mich heran und meinte, wie gut sich Mies‘ Leben für eine Comicgeschichte eignen würde. Damit war die Sache entschieden und es war klar, dass ich mich auf ein Abenteuer von mehreren Jahren einlassen würde. Als ich das Projekt in Angriff nahm, war es 2015. 2019, das Jahr des 50. Todestages von Mies, habe ich mir als absolute Deadline gesetzt – und sie auch eingehalten. So ist das Buch zusätzlich ein netter Tribut zum Todestag des großen Künstlers geworden. Nachdem ich mit der Arbeit an dem Buch angefangen und mich in die ersten Biografien und Artikel über ihn und sein Werk vertieft hatte, entstand sehr schnell eine Bindung zu ihm als Mensch. Ich war in der Lage, mich in ihn hineinzuversetzen und zu erahnen, weshalb er bestimmte Entscheidungen in seinem Leben getroffen hatte. Einige fühlten sich richtig an, andere aus meiner Perspektive verwerflich.

Seite aus „Mies“ (Carlsen)

Wie gingen Sie bei Ihren Recherchen vor? Gab es Leerstellen in Mies‘ Leben, die Sie nicht verifizieren konnten und fiktionalisieren mussten?
Der Recherche lag eine ganze Reihe an Standardliteratur zu Grunde. Die meisten erschienenen Bücher konzentrieren sich auf Mies‘ Errungenschaften als Architekt, einige wenige auf sein Leben als Ganzes. Diese waren es auch, die mich am meisten interessierten. Ich durchforstete sie auf der Suche nach speziellen Fakten, Anekdoten, Zitaten, Ereignissen… Dazu kamen natürlich auch jede Menge Artikel in Journalen und Fachmagazinen, die größtenteils online einzusehen sind. Ich habe zunächst alleine recherchiert, bis ich auf ein Problem stieß, das ich nicht allein bewältigen konnte: Farbe für meine Bildreferenzen. Alle historischen Aufnahmen aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts sind schwarzweiß. Glücklicherweise konnte mir ein befreundeter Historiker bei den Farben von Uniformen u. ä. weiterhelfen. Später half mir auch die deutsche Serie „Babylon Berlin“ der Zeit bildhistorisch gerecht zu werden.

Im Laufe meiner Recherche über Mies‘ Leben stieß ich auf gewisse Abweichungen und Auslassungen bei den unterschiedlichen Autoren. Ich vermute, dass einige Autoren bestimmte Aspekte seiner Biografie aussparten, als Respekt vor dem Meister. Andere hingegen vertieften sich geradezu in die pikanten Aspekte seiner Geschichte. Ich wollte einen Mittelweg gehen, ihn als Menschen darzustellen, der an seiner Zeit zu messen ist und an den Leidenschaften, die einem großen Geist wie ihm innewohnten. So ließ ich mich für die Darstellung von Mies‘ Studienreise nach Italien und den Affären dort von Marcel Proust und seinen Erzählungen über die Wäscherin, die er auf seinen Spaziergängen um Combray herum traf, inspirieren. Als eine Art Initiationsreise von der Jugend ins Erwachsenenalter. Ich bin natürlich kein Zeitzeuge, ich weiß nicht, welche Sätze im Privaten gefallen sind. Ich habe die Dialoge alle entsprechend meiner Intuition erfunden. Und genauso habe ich auch viele Fakten und Situationen verändert, um ihre poetische Wucht und Signifikanz für die Handlung zu verstärken. Am deutlichsten sicherlich in der Szene, in der am 12. April 1933 das Berliner Bauhaus von der Berliner Polizei geschlossen wird. Die tatsächlichen Ereignisse waren wesentlich unaufgeregter, als ich sie in meinem Comic darstelle.

Mies‘ Verhältnis zu den Nationalsozialisten ist zentral für Ihre Erzählung. Auch wenn Ihre Erzählung weitgehend linear ist, kehren Sie in Rückblenden immer wieder in diese Zeit zurück. Warum war diese Periode in seinem Leben so wichtig für Sie?
Mies hatte sich zeitlebens nie politisch positioniert, auch wenn er in der Weimarer Republik viele Kontakte in den sozialistischen und kommunistischen Zirkeln hatte, sei es durch freundschaftliche Verbindungen oder als Auftraggeber. Seine apolitische Haltung war es auch, die ihn für die Position als Leiter der Bauhaus-Schule in Dessau empfahl, als Bauhaus-Gründer Walter Gropius versuchte, sich Anschuldigungen der rechten Stadtverwaltung Dessaus, die Schule sei ein kommunistische Gedankenschmiede, entgegenzuwirken. Seine Ernennungen konnte jedoch auch nicht verhindert, dass die Nazis aus kulturellem Neid und Ignoranz die Schule schließen ließen.

Seite aus „Mies“ (Carlsen)

Ich glaube, dass Mies sich von den politischen Floskeln in den Reden von Hitler und Goebbels in die Irre führen ließ. Als Hitler das Konzept des transparenten Staats propagierte, glaubte Mies diese politische Transparenz würde perfekt zu seinem Konzept von Stahl-und-Glas-Architektur passen. Es gab einen Zeitpunkt in der Geschichte, an dem er damit auch richtig lag, denn Goebbels unterstütze durchaus die neuen Tendenzen in der deutschen Baukunst und war kein Feind von Mies‘ Entwürfen. Aber als politischer Pragmatiker und Manipulator wusste Goebbels auch, dass diese Art des Bauens sich in Nazi-Deutschlandland niemals durchsetzen würde. Zu sehr waren die Massen, auf denen die Nazi-Ideologie fußte, an den preußischen Klassizismus gewöhnt.

Trotzdem unternahm Mies alles in seiner Macht stehende, um sich bei den Nazi-Eliten lieb Kind zu machen. Er unterzeichnete eine Unterstützungserklärung für Hitler (da war er bei weitem nicht der einzige). Aber er verkaufte seine Seele umsonst. Die Nazi-Führung setzte auf die Pilaster-Baukunst von Speer und Mies hörte auf zu bauen. Deutschland verließ er dann erst im allerletzten Moment. Ich fand es faszinierend, diese Periode in seinem Leben zu beleuchten, seine apolitische Seite hervorzuheben. Aber auch seinen Starrsinn, sich den Nazis immer wieder anzubiedern, nur um weiterbauen zu können. Die Sünde des politischen Naivlings. Der Leser weiß von Anfang an, dass dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt ist.

Als Architekt war diese Periode für ihn eine zehrende Durststrecke, aber ich denke sie diente ihm auch – die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – als Zäsur, um mit dem Vergangenen zu brechen und neuen Horizonten entgegenzuschreiten, die sich ihm in den USA boten. Die neuen Möglichkeiten zeitigten sich dann auch später in seinen Entwürfen und neuen architektonischen Ansätzen.

„Mies“ erzählt auch die Geschichte von den Frauen an der Seite des bekannten Architekten: Lilly Reich, Lola Marx, Ada Bruhn, Edith Farnsworth…
Mies van der Rohe war ohne Zweifel eine starke Persönlichkeit, aber die Frauen in seinem Leben waren auch keine grauen Mäuschen. Den Bechdel-Test hätte ich beim Schreiben von „Mies“ natürlich nicht bestehen können, ich erzähle schließlich auch die Geschichte eines mächtigen, charismatischen Mannes. Aber mir war von Anfang an bewusst, dass ich den Frauen in seinem Leben auch einen Teil in meinem Buch einräumen muss. Ich wollte ihnen eine Stimme verleihen. Vielleicht auch, um geschehenes Unrecht wiedergutzumachen…

Seite aus „Mies“ (Carlsen)

Seine Beziehungen zu seinen Gefährtinnen gehören zu den Dingen, die mich bei Mies van der Rohe am meisten abgestoßen haben. Dass er seine Frau und seine Töchter verlassen hat (bzw. sie ihn als Reaktion auf seine wiederholten Seitensprünge und seine Obsession als Künstler) und später ein gutes Verhältnis zu ihnen aufgebaut hat, wäre ja heutzutage nichts ungewöhnliches. Schwierig wird es bei seinem Bruch mit Lilly Reich. Es ist nicht nur die Tatsache, dass er sie im Nazi-Deutschland zurückgelassen hat. Er hätte sie fragen können, ob sie ihn nach Amerika begleitet. Aber irgendwie erscheint es mir so, als wollte Mies sie zurücklassen. Er wollte ihrer Kontrolle entkommen. Reich stand für Ordnung und Effizienz, während sich Mies nach Freiheit gesehnt hat.

Was die Signifikanz von Lilly Reich anbelangt, möchte ich nur festgehalten wissen, dass Mies nach seiner Auswanderung in die USA nie wieder Möbel designt hat (die Regale mal außen vor gelassen). Das bringt mich dazu, zu glauben, dass die wirkliche Urheberschaft der Designs aus der Zeit von Barcelona und Brünn, und vor allem der MR-Stühle in all ihren Varianten, eher auf Lilly Reich zurückgeht als auf Mies. Ebenfalls beachtlich war ihre Rolle in der Gestaltung und dem Design für den deutschen Pavillon in Barcelona 1929 und die Gestaltung der Tugendhat-Villa im tschechischen Brünn. Diese Verdienste wollte ich hervorheben.

Die Rolle von Lora Marx, die Mies kurz nach seiner Ankunft in Chicago kennengelernt hat, war ebenfalls von immenser Bedeutung für das Leben des Architekten. Sie war eine wunderschöne Frau, vierzehn Jahre jünger als er und mit künstlerischen Ambitionen, aber immer in seinem Schatten. Und sie waren nicht verheiratet – er fühlte sich also zu nichts verpflichtet. Die die perfekte Lebensbegleiterin, die seine Affären aushielt, seine Lust, das Leben in vollen Zügen zu genießen, teilte, darunter auch den Alkohol. Sie endete schließlich als Alkoholikerin an seiner Seite. Tragisch…

Und nicht zu vergessen Edith Farnsworth, die Ärztin, nach der eines der bekanntesten Häuser in der Architekturgeschichte benannt ist. Es schien, dass auch sie dem kalten Charme des Meisters erlegen ist, bis er eines Tages genug von ihr hatte. Berühmt-berüchtigt ist auch das Gerichtsdrama, das sie sich nach der Fertigstellung des Hauses geliefert haben und ihre emotionale Beziehung zueinander. Ein weiteres Opfer auf der Liste des Mannes, dem vor allem die „drei M‘s“ am Herzen lagen: Martinis, Montecristos & Mujeres. Wie hätte ich diesen Frauen keinen Platz einräumen können, diesen starken, unabhängigen Frauen, die aber allesamt an diesem Übermenschen der Architektur zerschellt sind?

Im Laufe des Buchs erzählen Sie die Hintergründe und Entstehungsgeschichten von Mies‘ bekanntesten Bauten wie dem Barcelon-Pavillon, der Villa Tugendhat, dem IIT Campus, dem Farnsworth-Haus, dem Seagram Buildung und der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Welcher von den Entwürfen steht am meisten für den Mies‘schen Baustil? Welche von den Bauten stehen Ihnen am nächsten?
Die bourgeoisen, klassischen Frühwerke außen vor gelassen, kann man Mies‘ Arbeiten in zwei ganz klar getrennte Phasen aufteilen: die europäische und die nordamerikanische. Die Projekte aus der Zwischenkriegszeit sind geprägt von seinem Einfluss durch die Avantgarde. In seinen Ziegelsteinhäusern oder dem Barcelona-Pavillon kann man die Eindrücke der Malerei von etwa El Lissitzky oder Mondrian erkennen. Diese Entwürfe sind Abstraktionen, die versuchen, Architektur in dem Raum zwischen den Wänden zu kreieren. Sein Umzug in die USA ging mit dem Wandel seiner Baukunst in eine wesentlich rationalere Architektur einher. Eine, die geprägt war von der Auseinandersetzung mit Details, unterstützt durch die finanziellen Polster einer boomenden Wirtschaft. Die amerikanische Phase ist ohne Zweifel eine großartige Zeit für ihn als Architekten, mit interessanten bombastischen und kleineren Aufträgen. Sie steht stellvertretend für Mies‘ Erbe innerhalb der Architektur.

Ich persönlich schätze aber neben der Tugendhat-Villa mit ihren neuartigen und integralen Designs seine Entwürfe aus den 1920er Jahren, die nie gebaut wurden. Seine Stahl-und-Glas-Wolkenkratzer, seine Betonbürogebäude und Ziegelsteinhäuser. Sie waren aufregend und mutig und ihrer Zeit weit voraus. Und wahrscheinlich unbaubar mit den Mitteln und Materialen der damaligen Zeit…