Das Auge des Tigers

© Universal

Im Zeichentrickfilm „Persepolis“ von Marjane Satrapi und Vincent Paronnaud wird das Lachen zur subversiven Waffe.

Die Rahmenhandlung, die am Pariser Flughafen Orly beginnt und endet, ist in Farbe erzählt. Hier mündet die Vergangenheit in die Gegenwart; und von hier aus erinnert sich die Ich-Erzählerin des Films, die Comic-Zeichnerin Marjane Satrapi, an ihre Kindheit und Jugend im Iran. Zuerst in Buchform erschienen, hat die Künstlerin zusammen mit ihrem französischen Kollegen Vincent Paronnaud ihre gezeichnete Lebensgeschichte unter dem Titel „Persepolis“ ins Medium des Animationsfilms übersetzt. Kunst und Leben verschmelzen in dieser gezeichneten Autobiographie auf einmalige Weise und behalten durch die grafische Verfremdung doch einen Abstand, der Raum schafft für politische Aufklärung und die Darstellung von Zeitgeschichte. Denn ebenso einmalig und bemerkenswert ist es, wie in „Persepolis“ individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander verschränkt werden, indem die politische Geschichte des Iran über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren entlang persönlicher Erlebnisse erzählt wird.

Diese Jahre fallen zusammen mit Marjane Satrapis Aufwachsen im Iran ab 1978, als die kleine Marjane (in der deutschen Synchronfassung gesprochen von der ebenfalls aus dem Iran stammenden Schauspielerin Jasmin Tabatabai) acht Jahre alt ist und auf den Straßen Teherans der Sturz des Schahs vorbereitet wird. Bald darauf ist Schluss mit Pommes frites und Coca-Cola, Adidas-Schuhen und Bruce Lee-Filmen, also jenen Produkten, mit denen das Mädchen aufwächst und die vom Regime der Mullahs als „Symbole westlicher Dekadenz“ gebrandmarkt werden. Mit dem Zwang zur Verschleierung und Uniformität verändert sich vor allem das Rollenbild der Frau, was durch die kontrastreiche Schwarzweiß-Zeichnung etwa der Tschadors kongenial visualisiert wird. Als dann auch noch der Krieg mit dem Iran ausbricht, der acht Jahre dauert und nahezu eine Million Tote fordert, verschärfen sich der staatskundliche Drill, die politische Verfolgung im Innern des Landes, männliche Bevormundung und öffentliche Denunziation.

Marjane Satrapi begegnet den staatlichen Repressionen, der Mangelwirtschaft und den die persönliche Freiheit einengenden Verboten mit dem respektlosen Witz ihrer Zeichnungen, die das Lachen zur „subversivsten aller Waffen“ erklären. Mit einer direkten, unverblümten Sprache und erfrischender Schlagfertigkeit kämpft sie gegen politische Wendehälse und bigotte Revolutionswächter, klärt über die Einflüsse einer verlogenen westlichen Politik und kulturelle Vorurteile auf und verteidigt im Gegenzug die letzten, sich immer mehr ins Geheime verschiebenden Refugien individueller Freiheit. Vor allem Marjanes abgeklärte Großmutter Mamie (gesprochen von Nadja Tiller) verachtet jegliche Stromlinienförmigkeit und fordert mit rebellischem Eigensinn von ihrer Enkelin, sich als Frau zu emanzipieren und dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck mit Zivilcourage zu widerstehen. „Bleibe stets integer und dir selbst treu“, lautet diesbezüglich ihre Maxime. Und als die Teenagerin schließlich im Alter von 14 Jahren ins Wiener Exil geht, ermahnt die Oma Marjane, niemals ihre Herkunft zu vergessen.

„Der Kampf geht weiter“, wird die Heldin als junge Frau sagen. Nach ersten Liebeswirren und einer nervösen Depression kehrt die Heimwehkranke zurück zu ihrer Familie nach Teheran, um ein Kunststudium aufzunehmen. Mit dem Popsong „Eye of the tiger“ von Survivor, in der Originalfassung des Films von Chiara Mastroianni mit eintöniger Stimme und starkem Akzent schräg gesungen, markiert Marjane diesen kämpferischen Neubeginn, der die Lust am Leben zurückbringen soll und nach einer früh gescheiterten Ehe im neuerlichen, diesmal französischen Exil mündet. „Die Freiheit hat immer einen Preis“, heißt es dazu. Und dieser Preis ist für Marjane Satrapi der Abschied von ihrer Familie, die sie über alles liebt. Mit „Persepolis“, dessen „stilisierter Realismus“, so Satrapi, ebenso vom deutschen Expressionismus wie vom italienischen Neorealismus beeinflusst ist, hat sie dieser Familie ein beeindruckendes Denkmal gesetzt und darüber hinaus mit den Mitteln des Zeichentrickfilms ein universelles Plädoyer für Menschlichkeit formuliert.

Persepolis
Frankreich/USA 2007

Regie: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud – Drehbuch: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud – Produktion: Marc-Antoine Robert, Xavier Rigault – 96 Min. – Verleih: Universal Pictures – Kinostart (D): 22.11.2007

Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.