Blutende Herzen – „Am liebsten mag ich Monster“

„Die Gewalt des Weltkrieges, die die Jugendlichen nur durch die von Träumen und Kriegsneurosen geprägten Erzählungen der Väter erfuhren“, hat Georg Seeßlen den Erfolg von Horror- und Crime-Comics in den Fünfzigern erklärt, „diese Gewalt musste aufgearbeitet, die schemenhafte, tabuisierte Bedrohung musste in Bildern ausgedrückt werden.“ Aber nicht nur die Gewalt des Krieges fand ihren Spiegel in den immer brutaler agierenden Serienkillern, Zombies und Vampiren, auch die Gewalt der US-amerikanischen Gegenwart der Fünfziger und Sechziger offenbart sich in diesen Bildern. Die fiktiven Monster der Comics boten Schutz vor den realen Monstern in der High School, dem Ferienlager und der Nachbarschaft. So zumindest für die zehnjährige Karen Reyes, die in den Sechzigern in Chicago aufwächst und nicht nur die Horrorcomics ihres älteren Bruders verschlingt, sondern sich in ihrem Notizblock auch selbst als Monster zeichnet. „Am liebsten mag ich Monster“, das Comic-Debüt der ebenfalls in den frühen Sechzigern in Chicago geborenen Zeichnerin Emil Ferris, zeigt die Lebenswelt der Außenseiterin Karen, die mit ihrer krebskranken Mutter und ihrem Bruder Deeze in einer heruntergekommenen Gegend Chicagos lebt, von mexikanisch-indianischen Eltern abstammt und sich zu Frauen hingezogen fühlt: Viele Gründe, sich als Außenseiterin zu fühlen und Zuflucht in Comics und düsteren Renaissancekunstwerken zu suchen, die Deeze ihr im Art Institute of Chicago zeigt.

„Am liebsten mag ich Monster“ setzt mit der erträumten Verwandlung von Karen in ein Monster ein, das von einem bewaffneten Mob verfolgt wird. „Ich habe keine Angst, dass sie mich töten werden, nein!“, notiert Karen in ihrem Notizbuch, „mich bringt der Gedanke zum Durchdrehen, dass sie mich eines Tages zu einer von ihnen machen könnten…“ Auf 400 Seiten breitet Emil Ferris’ auf zwei Bände angelegtes Werk die Gedankenwelt der zehnjährigen Karen aus, in großformatigen Zeichnungen zwischen Realismus und Skizze, Notizen, detailliert mit Kugelschreiber nachgezeichneten Horrorcomic-Covern und Gemälden von Lucas Cranach oder Georges Seurat. Die verzerrte Wahrnehmung der meist sehr erwachsen klingenden Karen entwirft ein Gesellschaftsbild der USA aus der Perspektive einer mehrfachen Außenseiterin, zeigt in Zeichnungen, die oftmals die Underground-Comix dieser Jahre zitieren, ein Chicago voller Armut und Rassismus, die Riots nach der Ermordung Martin Luther Kings, aber auch den Aufbruch einer jungen Generation in die Gegenkultur, von dem allerdings die sozial abgehängte Familie Reyes und ihre Nachbarschaft ausgeschlossen bleibt.

Emil Ferris (Text und Zeichnungen): „Am liebsten mag ich Monster“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Torsten Hempelt. Panini, Stuttgart 2018. 420 Seiten. 39 Euro

Und zwischen all diesen gesellschaftlichen Spannungen findet sich eine Frau, die versucht, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen: Anka Silverberg, die zweite zentrale Figur in „Am liebsten mag ich Monster“. Anka ist Holocaustüberlebende, die eines Tages tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird, Selbstmord heißt es von Seiten der Polizei, doch Karen zweifelt an dieser Version: „In ihrem Leben war Anka vielen Kugeln ausgewichen … Warum also sollte sie ihr Leben beenden, indem sie sich absichtlich einer in den Weg stellte?“ Auf eigene Faust begibt sich Karen auf die Suche nach dem Täter, selbst ihr Bruder Deeze, der eine Affäre mit Anka hatte, gerät unter Verdacht. Kassetten, auf denen Anka ihre Lebensgeschichte festgehalten hat und die Karen in die Hände fallen, weisen zurück ins nationalsozialistische Deutschland. Emil Ferris zeichnet ein düsteres Bild von Berlin in der Zwischenkriegszeit, wo Anka als Kind einer gewalttätigen und lieblosen Mutter in einem Bordell aufwächst, sich schon als Kind prostituiert und schließlich als Jüdin der Verfolgung durch die Nazis ausgeliefert ist. Spätestens hier entgleitet Emil Ferris ihre eigene Erzählung, wenn in der Figur Anka nicht nur alle Gewalt, die einem Kind zugefügt werden kann, zusammentrifft, sondern auch Verfolgung, Deportation und Konzentrationslager als eine Geschichte erzählt wird, aus der Anka durch den Schutz und das Geld eines ehemaligen Freiers problemlos wieder entfliehen kann.

Doch wird diese Episode durch ihre zweifache Verzerrung etwas abgefedert – es handelt sich schließlich um den Versuch einer Zehnjährigen, aus den sprung- und lückenhaften Erinnerungen einer traumatisierten Frau schlau zu werden, der am Valentinstag 1968 ins Herz geschossen wurde und die niemals in der Gegenwart angekommen ist: „So war Anka: Sie schaute dich an, sah aber jemanden aus ihrer Vergangenheit.“

Blutende Herzen bilden auch eines der Leitmotive von „Am liebsten mag ich Monster“, sie finden sich in zahlreichen Varianten, bilden sich aus Kuchen, Ketten und Rosenblättern. Persönliches Glück, so wird Karen Reyes schon mit zehn Jahren offenbart, ist nicht zu haben in einer Welt, in der hinter jeder Ecke der Mob lauert. Stattdessen regieren gebrochene Herzen und Persönlichkeiten – glücklich kann niemand werden in der Welt, die Emil Ferris vor den Lesern ausbreitet. Resigniert hält Karen fest: „Inzwischen glaube ich, dass die Liebe das seltsamste Monster überhaupt ist.“ Ein Happy End wird auch die Auflösung des Mordes im zweiten Band vermutlich nicht anbieten.

Dieser Text erschien zuerst am 2.1.2019 in: Neues Deutschland

„Am liebsten mag ich Monster“ erhielt den Preis der deutschsprachigen Comic-Kritik 2018. Hier findet sich eine weitere Kritik.

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.