Die drohende Endzeit ist im Comic nicht nur ein unerbittlicher Klassen- und Generationenkampf, sie zwingt die Jugend auch zu einem Leben im Zeitraffer.
Wenn die Corona-Krise einmal lange vorbei ist, wenn unsere Tage einmal endgültig gezählt sein werden und es keinen Unterschied mehr macht, ob wir rechtschaffen, moralisch, barmherzig handeln – wer lässt dann nicht einfach die Sau raus? Carpe diem, Baby! Für den Soziologen Bruno Latour stellt sich hier überhaupt keine Frage. Die Vorbereitungen für die Endzeit sind längst im vollen Gange. Die sogenannten Eliten haben ihre Solidarität mit der übrigen Menschheit längst aufgekündigt, so Latour. Sie „waren dermaßen überzeugt, dass es keine gemeinsame Zukunft für alle geben könne, dass sie beschlossen, […] dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen […].“
Latours Anschuldigung ist so ungeheuerlich, viele von uns können sich gar nicht vorstellen, wer die Happy Few sein und wo ihre goldenen Festungen stehen sollen. Selbst die Autor*innen von Superhelden- und Science-Fiction-Comics, deren Überleben in der Creative Economy von ihrer Vorstellungskraft abhängt, haben Mühe, die richtigen Bilder für das Undenkbare zu finden. Beispielsweise Rick Remender und Greg Tocchini, die sich den Weltuntergang in ihrem Unterwasser-Epos „Low“ aus Antikenzitaten zusammenpuzzeln. Angesichts des nahen Todes hat die politische Klasse alle Scham fahren lassen und sich dem Sex und der Völlerei verschrieben, einer Orgie spätrömischer Dekadenz.Auch in „Low“ ist die Apokalypse ein Klassenkampf zwischen denen dort oben und uns hier unten. „YOU CAN HAVE YOUR SON AND THE EQUIPMENT FOR YOUR SUICIDE MISSION“, verspricht Senator Greeme der Heldin Stel, die eine letzte Chance zur Rettung des Planeten gefunden hat. „BUT IN EXCHANGE YOUʼLL HAVE TO SERVE YOUR SENATOR FIRST.“ Stel soll sich unterwerfen, nur dann darf sie hoffen, zu überleben.
Victim of Changes
In „Daredevil 252“ eskaliert der Klassenkampf auch im Marvel Universum. Nach einem (vorgeblichen) atomaren Angriff auf New York City verlassen die „Disenfranchised People“ – Obdachlose und Gefängnisbevölkerung, Punks und „Taugenichtse“, queere Personen – die Ränder der Gesellschaft. Sie rauben dem Staat die Waffen, mit denen er seine Bürger*innen unterdrückt, und etablieren ein neues Regime, an dessen Spitze nicht länger die Reichen und Schönen stehen. In Zukunft entscheidet ein objektiveres Maß darüber, wessen Wille Gesetz wird: Das Recht des Stärkeren.
Unter diesem neuen Paradigma verschieben sich viele – aber nicht alle! – Kräfteverhältnisse. Manche verkehren sich in ihr Gegenteil. Neue soziale Klassen entstehen, eine bewaffnete und eine ausgelieferte, beide von charismatischen Führern gelenkt: Ammo, ein urbaner Warlord auf der einen Seite, ihm gegenüber der „Guardian Devil“ von Hellʼs Kitchen, Daredevil. Der eine lenkt die Massen mit Zuckerbrot und Peitsche: „A WORLD DIVIDED – BETWEEN THE VICTORS AND THE VICTIMS! TAKE YOUR CHOICE! I AM AMMO! […] YOU CAN JOIN ME – OR BE MY FIRST VICTIM!“ Der andere, Daredevil, führt mit väterlicher Strenge: „YOU GOT NOTHING TO COMPLAIN ABOUT!“, fährt er den sinnsuchenden Teenager Cain an, „SO GET IN THERE AND HELP.“Daredevil und Ammo sind Antagonisten, die beide unbedingte Aufopferung von ihren „Fußsoldat*innen“ im Kampf um die postapokalyptische Gesellschaft fordern. Beispielsweise zögert Ammo keine Sekunde, auch seine eigenen Anhänger*innen niederzumähen, um seinen Feind zu vernichten. Unter den Opfern des Beschusses finden sich sogar Kinder, die aber nur im weiteren Sinne als Kollateralschäden bezeichnet werden können. Immerhin beteiligen sie sich begeistert an den Gemetzeln: „LOOK IT AMMO! […] I CAN SHOOT TOO!“
Blut an den Händen hat auch Daredevil, obwohl er nicht dieselbe Verachtung für menschliches Leben an den Tag legt wie Ammo: „I WAS A GOOD SOLDIER…“ sind die letzten Worte Cains, der seine Pflicht dem Superhelden gegenüber erfüllt und am Ende doch kein Wort des Lobes hört, nachdem eine gegnerische Straßenkämpferin ihn niedergestochen hat.Say You Want a Revolution
Diese Revolution frisst nicht nur ihre eigenen, sie frisst alle Kinder. Das liegt auch daran, weil die Kleinsten den Erwachsenen ausgeliefert sind. In dem rechtsfreien Raum der Apokalypse brauchen sie deren Führung, weil sie die Schwächsten der Schwachen – schutzbedürftig – sind. Sie sehnen sich regelrecht nach Anleitung. Aber die Erwachsenen in „Daredevil 252“ versagen kläglich, beinahe allesamt. Sie lassen die Kinder im Stich, schicken die Jugendlichen in den Tod. Das fatalistische Bild spiegelt die Weltuntergangsstimmung der 1980er Jahre wider, als der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt war. Comicklassiker wie „Watchmen“ und „The Dark Knight Returns“ dokumentieren den Zeitgeist der Dekade: Politik und Gesellschaft haben die nachfolgenden Generationen um deren Zukunft betrogen und hinterlassen ein toxisches Erbe. In den Worten Greta Thunbergs klingt das heute genauso zornig, wie Moore, Nocenti und andere in den 1980ern gewesen sind: „You are failing us. But the young people are starting to understand your betrayal. The eyes of all future generations are upon you. And if you choose to fail us, I say: We will never forgive you.“
Von der Reagan-Ära bis zu Fridays for Future, die Kinder vergeben ihren Eltern nicht, bis heute. Diese Unerbittlichkeit setzt sich denn auch bis in den zeitgenössischen Comic fort, über Genre-Grenzen hinweg: Chloé Vollmer-Lo und Carole Maurels „Magdas Apokalypse“ atmet dieselbe Verzweiflung über die Erwachsenenwelt wie „Daredevil 252“. Vollmer-Lo und Maurel erlauben ihren Leser*innen jedoch zusätzlich einen intimen Einblick in das Seelenleben der jugendlichen Protagonistin Magda. Den Comic macht diese Innenperspektive umso trauriger, umso schwerer zu ertragen.Auch Magda stirbt am Schluss des Comics. Sie tötet sich selbst. „Warum hat sie das getan?“, fragte ich mich am Ende der Lektüre. Ist die Apokalypse nicht verschoben worden, der Weltuntergang als Hoax entlarvt? Rejoice, World! Wir alle werden leben! Warum erträgt Magda die frohe Botschaft nicht? Weil sie in Erwartung der Apokalypse ein Leben im Zeitraffer führt. In dem jeder Tag bis zum Letzten ausgekostet werden muss. Mit einer Nachspielzeit rechnet niemand mehr. Und als diese dann doch gewährt wird, kann Magda keinen Frieden damit machen, dass alle – und allen voran die Erwachsenen – die Sau rausgelassen haben.
„You are failing us“ möchte man im Sinne Thunbergs jeder*m einzelnen Erwachsenen in „Magdas Apokalypse“ sagen. Jede*r einzelne ist auf ihre*seine Weise eine absolute Enttäuschung. Orientierung, Trost oder Sinnstiftung sind von diesen Menschen nicht zu erwarten. Die Kinder werden sich selbst überlassen.
Es gibt sicherlich Comics, in denen solche Lost Boys and Girls unbeobachtet von ihren pflichtvergessenen Fürsorger*innen ein Utopia errichten, wo die Makel der Erwachsenenwelt ausgemerzt sind. „Magdas Apokalypse“ hat für solche spekulativen Szenarien keine Geduld. Vollmer-Lo und Maurels Kinder sind weder unschuldig noch rein oder naiv. Sie sind Heranwachsende – Erwachsene im Werden –, die unter extremen Bedingungen die Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz ausloten müssen. Manche von ihnen sind am Ende verbraucht, viele gebrochen und enttäuscht. Aber allesamt Good Soldiers. „We will never forgive you.“
Jakob Kibala ist freier Autor und Comickritiker (Comixene). Sein vorläufiges Opus Magnum heißt „Wissen und Erschließen“ über die Batman-Comics von Grant Morrison und „The League of Extraordinary Gentlemen“ (Ch. A. Bachmann Verlag). Seit 2020 denkt er viel darüber nach, was es bedeutet, heute Vater zu sein. Seine Tochter ist ein Jahr alt.