„Also gut, dann gehöre ich dir.“ So spricht der Baum und verbeugt sich anschließend vor einem Mann namens „Fausto“. Nomen est omen, denn der rastlose und scheinbar unersättliche Fausto ist gerade im Begriff, sich die Erde untertan zu machen, samt allem was darauf steht und geht. Nach der problemlosen Unterwerfung und Aneignung von Flora und Fauna begegnet er weitaus mächtigeren, widerspenstigeren Elementen der Natur, die sich ihm aber schließlich auch fügen werden. Warum aber fügen sie sich?
Der Autor und Illustrator Oliver Jeffers hat mit „Die Fabel von Fausto“ eine mit hochatmosphärischen Illustrationen versehene Erzählung vorgelegt, die von einem Menschen und dessen nicht zu bändigenden Willen handelt, ein jegliches Außen zu internalisieren. Die Möglichkeit, von jenem Außen einmal selbst verschluckt zu werden, kommt diesem freilich nicht in den Sinn. (Dem Autor der Fabel bzw. Parabel kommt der Gedanke allerdings schon, so viel sei an dieser Stelle dann doch verraten.)Zurück zur einleitenden Frage: Warum fügen sich nun die Blume, das Schaf, der Wald usw.? Eine berühmte soziologische Definition kann hier weiterhelfen. Sie bezeichnet Macht als „Chance den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Worauf Faustos Chance letztlich beruht: unstillbare Gier, ein unerschütterliches Ego und extrem aggressives Gebaren. Das genügt offensichtlich, seine Ansprüche kompromisslos geltend zu machen. Auftretende Renitenzen und Resistenzen werden mit Zornesausbrüchen des modernen Konquistadors im Keim erstickt. Jeffers inszeniert diese Ausbrüche grafisch als Naturereignisse: Dunkle Wolken brauen sich über dem Haupt des wild gestikulierenden Fausto zusammen, der mit hochrotem Kopf und weit aufgerissenem Mund (unverständlich bleibende) Flüche und Drohungen ausstößt.
Man kann Jeffers‘ Geschichte als Kritik individueller menschlicher Gier und gnadenloser Selbstüberschätzung lesen. Man kann sie aber auch als Kritik eines Systems verstehen, das mit der europäischen Expansion im 15. Jahrhundert seinen Anfang nahm und dem der Zwang zu Wachstum und Internalisierung ebenso inhärent ist wie Faustos permanenten Streben nach mehr. Diese Lesart würde den Leser*innen gewissermaßen den Spiegel vorhalten: Dass der Protagonist der Geschichte im Verlaufe der Handlung auf keine weiteren Menschen trifft, ist sicher kein Zufall. Denn Fausto ist nicht irgendein Mensch mit besonders üblen Charaktereigenschaften. Er ist der Mensch im sogenannten Anthropozän, der die von ihm in Besitz genommene Erde gnadenlos ausbeutet und sich damit Schritt für Schritt die eigene Lebensgrundlage entzieht. Auch Fausto bemerkt zu seinem eigenem Verhängnis spät, zu spät, dass ihm der Boden unter den Füßen längst entzogen ist.
Diese Kritik erschien zuerst am 03.05.2020 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.