„Die Gespräche waren aufwühlend“

in unserer an Krisen nicht gerade armen Zeit sticht das Thema Migration als eine der größten Herausforderungen und gesellschaftlichen Zerreißproben unserer Tage heraus. Der politische Diskurs wird rauer – Migrationsgipfel folgt auf Migrationsgipfel, Debatten über sichere und unsichere Drittstaaten und Herkunftsländer, Asylverfahren an den EU-Grenzen… Es ist offensichtlich, dass sich in den kommenden Jahren an der Geflüchtetenfrage das Wertesystem Europas neu ausrichten wird. In welche Richtung, ist noch offen. Auch aktuelle Comics greifen das Thema auf. Im Oktober ist die viel beachtete deutsche Graphic Novel „Das Schimmern der See“ von Adrian Pourviseh (avant-verlag) erschienen. Aus Aktivist*innen-Perspektive erzählt der Comic über Seenotrettung im Mittelmeer. Im November folgte mit Patrick Oberholzers „Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan“ (Splitter Verlag) eine Comicreportage, die einen anderen Ansatz wählt und Geflüchtete selbst zu Wort kommen lässt.

Der Illustrator und Designer Patrick Oberholzer hat in Zürich studiert und lebt mittlerweile in Winterthur. Seine Aufträge erhält er sowohl aus der Industrie als auch Kultur (u. a. der Schweizer Post), in den letzten Jahren hat er parallel zu seinen Jobs an seinem Comicdebüt gearbeitet: „Games“ ist eine Comicreportage, die die verschiedenen Fluchtrouten und Wege von Geflüchteten aus Afghanistan beschreibt, basierend auf ausgiebigen Interviews mit fünf afghanischen Geflüchteten. Über verschiedene Organisationen trat der Schweizer Zeichner an fünf Menschen (vier Männer und eine Frau) heran, die in den letzten Jahren aus Afghanistan geflüchtet waren, und ließ sich detailliert ihre Lebens- und Fluchtgeschichten erzählen. Ihren persönliche Erlebnisberichten setzt Oberholzer informative Texte und Grafiken hinzu, die zusätzliches Wissen vermitteln. Wie organisiert man seine Flucht? Wie funktionieren Schleppersysteme? Warum verändern sich Fluchtrouten? Und was erwartet die Flüchtenden in Europa/der Schweiz? Im Presse-Interview spricht Patrick Oberholzer über die Hintergründe seines Comicdebüts.

Lieber Patrick, vielen Dank, dass du dir die Zeit für unser Gespräch nimmst. „Games“ ist ja deine erste Graphic Novel – magst du dich also eingangs ein bisschen unseren Leser*innen vorstellen? Wie bist du zum Zeichnen gekommen und welche Rolle habe Comics für dich beim Aufwachsen gespielt? Und welchen Stellenwert nimmt das Comiczeichnen in deinem Illustratorenalltag ein?

Das Zeichnen begleitet mich, seit ich einen Stift halten kann. Es war schon immer ein wichtiger Teil von mir. Während meines Studiums und mehreren Jahren in einer Werbeagentur standen dann andere gestalterische Tätigkeiten im Vordergrund, ich lernte in dieser Zeit aber enorm viel, was mich auch heute weiterbringt. Vor sieben Jahren habe ich beschlossen, mich wieder auf das Zeichnen zu konzentrieren und machte mich selbständig – als Illustrator. Seither gestalte ich Illustrationen für Medien, Firmen und Kulturhäuser. Ich entwarf unter anderem eine Briefmarkenserie für die schweizerische Post und eine achtzig Meter lange Weihnachtsfassade für ein Kaufhaus an der Zürcher Bahnhofstraße. Comics haben vor allem in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt. „Asterix” und „Tim & Struppi“ haben mich da früh geprägt. Ich glaube, dass meine Faszination für den Comic aus dieser Zeit stammt. Irgendwie war mir immer klar, dass ich eines Tages eine Graphic Novel umsetzen wollte.

Bevor wir uns „Games“ zuwenden, könntest du uns ein bisschen über die Schweiz und ihre Zuwanderungspolitik der letzten Jahre erzählen?

Das Thema Zuwanderung bewegt auch die Schweiz sehr stark. Der aktuelle Wahlkampf war geprägt vom Schlagwort der bevorstehenden „10-Millionen-Schweiz“. Grundsätzlich muss man aber sagen, dass der Schutz der Geflüchteten aus Afghanistan einen etwas größeren Rückhalt in der Bevölkerung genießt als der von Menschen aus anderen Herkunftsländern.

Wie kam es zum Projekt „Games“? Weshalb hast du dich für solch eine komplexe und schwierige Thematik entschieden?

In meinem Alltag als Illustrator gestalte ich vor allem Bilder, die Leichtigkeit vermitteln und positive Emotionen wecken sollen – schließlich geht es oft um Werbung. Vielleicht war das mit ein Grund dafür, dass ich zu dieser eher düsteren Thematik gegriffen habe. Ich habe nach einem Thema gesucht, das einen großen Aktualitätsbezug hat und wollte darauf eine neue Perspektive bieten. Und ich wollte auch selbst etwas dabei lernen. Der Anstoß für diese Comicdokumentation war eine Zufallsbegegnung: An einem Geburtstagsfest traf ich auf einen jungen Afghanen (übrigens einer der Protagonisten im Buch), der ganz von sich aus von seiner Flucht erzählt hat. Ich hätte mich nicht getraut, ihn auf diese Erinnerungen anzusprechen, aber er schien relativ offen damit umzugehen. An diese Begegnung erinnerte ich mich einige Monate später, als ich auf der Suche nach einem Thema für eine Graphic Novel war. Es war eine extrem spannende Erfahrung, zwei Jahre lang in diese Thematik einzutauchen.

In den letzten Wochen hat sich das Klima für Geflüchtete und die Abschottung in Europa einmal mehr verschärft. Welche Rolle soll deine Comicdokumentation vor diesem Hintergrund spielen?

Die Diskussionen rund um das Thema Flucht und Migration sind geprägt von Halbwissen und Schwarz-Weiß-Denken. Die Realität ist komplex und mir ist es wichtig, in dieser Graphic Novel Zwischentöne und verschiedene Perspektiven abzubilden. „Games“ richtet sich an ein breites Publikum,
soll sachlich und umfassend über das Thema Flucht informieren und eine Basis für weiterführende Gedanken sein: Was sollte sich am bestehenden Ablauf der Migration ändern? Wie könnte ein nachhaltigeres System für Migration aussehen?

Wie bist du mit den fünf Geflüchteten in Kontakt gekommen? Wie sind eure Gespräche abgelaufen?

Die Protagonist*innen im Buch sind, nebst einem persönlichen Bekannten, vier Freiwillige, die sich auf meine Anfragen bei verschiedenen sozialen Institutionen gemeldet haben. Die ersten Gespräche mit ihnen waren für mich eine große Herausforderung. Ich wusste damals noch überhaupt nicht, was mich bei diesen Interviews erwartet. Die Gespräche waren aufwühlend – für mich und für sie. Viele von ihnen haben schlimme Dinge erlebt, die sie auch heute noch in Gedanken bei sich tragen. Es war oft schwierig zu entscheiden, wie ausführlich man diese belastenden Erinnerungen bespricht und wie detailliert oder abstrakt man diese später abbilden soll. Ich habe stets versucht, während der Befragung so wenig wie möglich selbst zu sprechen und die Fragen offen zu formulieren, sodass ich die Antworten später unverfälscht im Comic zitieren konnte. Nach diesen ersten Interviews (denen zahlreiche weitere folgten) begann ich, ein grobes Gerüst für das Buch zu entwerfen und zu planen, wie ich die große Menge an Informationen und Erzählsträngen auf verständliche und gut lesbare Art verbinden könnte. Die Bildwelt in dieser Comicdoku ist am Schluss eine Fusion aus den Bildern, die diese Erzählungen in mir hervorgerufen haben, und einer sehr umfangreichen Bildrecherche. Meine Entwürfe habe ich mit den Protagonist*innen immer wieder besprochen und weiterentwickelt.

Hast du dich an bestimmten Comicreportagen und Stilen orientiert?

Ich muss sagen, dass ich Comicreportagen als Gattung erst während der Arbeit an diesem Buch entdeckt habe – und sie haben mich begeistert. Ein guter Einstieg sind die Werke vom bekannten Künstler Joe Sacco. Sein Buch „Bosnien“ kann ich jedem ans Herz legen. Mit seiner Art der Erzählung hat meine Comicreportage aber wenig zu tun, ich habe wirklich versucht, mit „Games“ etwas Eigenständiges zu realisieren.

Was macht für dich den Comic und seine narrativen Möglichkeiten für Reportagen und Wissensvermittlung attraktiv?

Der Comic bietet unglaublich viele Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Auf der einen Seite lassen sich Szenen konkret abbilden, die man etwa als Videojournalist unmöglich filmen könnte, auf der anderen Seite lassen sich manche Erlebnisse abstrahiert zeigen – so, wie sie in den Köpfen der Protagonisten erlebt und wahrgenommen wurden. Mein Ziel war es, dieser düsteren, komplexen Thematik gerecht zu werden, sie aber gleichzeitig für die Leser*innen attraktiv und leicht verständlich aufzubereiten. Die Bilder sollen Lust machen, sich auf das Thema einzulassen. Und sie sollen das ergänzen, was zwischen den Zeilen steht. Die vielen Überschneidungen von Illustrationen, Comic-Sequenzen, Texten und Infografiken im Buch waren auch ein bisschen ein Experiment. Und etwas, was diese Arbeit für mich spannend und lehrreich gemacht hat.

Wie aufwändig war die Recherche für die Hintergrundtexte und Infografiken, die die Interviewparts begleiten?

Um die Bildwelt im Comic möglichst wahrheitsgetreu abbilden zu können, habe ich eine sehr aufwändige Bildrecherche betrieben. Aber noch zeitintensiver war die Recherche für das Hintergrundwissen, das ich in diesem Buch vermitteln wollte. Es war sehr herausfordernd, die ständig
wechselnden migrationspolitischen Gegebenheiten in den verschiedenen Ländern auf der Fluchtroute kompakt und verständlich zusammenzufassen.

Du hast einen sehr markanten Zeichenstil. Kannst du uns ein bisschen was zu deiner Technik erzählen?

Ich starte immer gerne mit schnellen Bleistiftskizzen auf Papier, in dieser Phase „denkt“ man mit dem Stift. Dabei ist es völlig egal, ob das Resultat gut aussieht – es geht nur um die Ideen. So entstand beispielsweise auch die Bildidee zur Überfahrt über das Meer. Ich wollte den Fokus des Bildes nicht auf das Boot richten, sondern auf diesen gigantischen, schwarzen Abgrund darunter. Sobald der Inhalt einer Doppelseite feststand, zeichnete ich sie etwas größer auf A4. So konnte ich sie auch den Protagonist*innen zeigen und die Inhalte besprechen. Anschließend zeichnete ich die einzelnen Seiten mit Bleistift auf A3 und scannte sie ein. Die klassischen Tuschelinien, die man aus Comics kennt, zeichnete ich anschließend digital mithilfe eines Grafiktabletts (ein großer Screen, auf dem sich per Stift zeichnen und malen lässt) und unterlegte die Zeichnung mit Farbe, ebenfalls digital. Für den Text in den Sprechblasen scannte ich meine eigene Handschrift und verwandelte sie in einen Font.

Die fünf Menschen, die du in „Games“ vorstellst, haben Afghanistan noch vor dem Abzug der Amerikaner verlassen. Hat sich der Ablauf der Flucht seither verändert?

Die Situation auf der Fluchtroute durch Iran, die Türkei und über den Balkan hat sich in dieser Zeit noch einmal verschärft. Kurz vor Veröffentlichung des Buchs habe ich Interviews mit aktuell Geflüchteten aus Afghanistan geführt. Es war mir wichtig, diese Perspektive und den aktuellen Stand der Dinge ins Buch einzubinden.

Zwei Jahre hast du an „Games“ gearbeitet. Was hat sich in dieser Zeit für dich verändert?

Für mich war dieses Projekt eine extrem spannende Herausforderung. Ich habe Interviews geführt, neue Menschen kennengelernt, viel zum Thema gelesen, recherchiert, skizziert und gezeichnet. Die zahlreichen persönlichen Begegnungen mit den Interviewpartner*innen waren inspirierend. Es ist wirklich beeindruckend, wie sie innerhalb kürzester Zeit die Sprache gelernt und sich hier ein neues Leben aufgebaut haben. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich den Aufwand, eine solche Graphic Novel herauszugeben, etwas unterschätzt habe. Die ganze Recherche, die Vorbereitungen, das Planen der Seiten und das Schreiben der Texte hat bestimmt gleich viel Zeit eingenommen wie die Gestaltung. In dieser Zeit gab es viele Hoch- und Tiefpunkte. Das ist bei längeren Projekten wohl normal – aber die Erkenntnis, dass man diese Tiefpunkte überwinden kann, ist doch eine wirklich tolle Erfahrung. Ich freue mich sehr, jetzt das fertige Buch in den Händen zu halten.

Patrick Oberholzer: Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 96 Seiten • Hardcover • 22,00 Euro