Die unerzählte Geschichte aus „Oliver Twist“

Kann man Comic-Gott Will Eisner als den Charles Dickens des grafischen Erzählens bezeichnen? Ach, wieso eigentlich nicht. Immerhin schuf auch Eisner im stigmatisierten Ghetto des literarisch vermeintlich Trivialen große Kunst, womit er das gesamte Comic-Medium prägte und zeitgenössische wie nachfolgende Kreative heftig beeinflusste. Allerdings war Eisner, dessen Comic-Roman „Ein Vertrag mit Gott“ im Original Ende der 70er den Begriff „Graphic Novel“ salonfähig machte, obendrein ein unermüdlicher Neuerer und Lehrer, bis er 2005 im Alter von 87 Jahren starb.

Zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte Eisner, der im Herbst seiner gigantischen Karriere ohnehin ein paar gewichtige literarische Klassiker wie „Moby Dick“ oder „Don Quijote“ in Kurzform mit Panels und Sprechblasen zusammengefasst hatte, seine vorletzte Graphic Novel „Fagin the Jew“. Diese wird zwei Jahre nach der amerikanischen Neuausgabe zum 10-jährigen Jubiläum nun bei Egmont erstmals auf Deutsch veröffentlicht.

Im Zentrum steht Fagin, der alte, jüdische Hehler aus Charles Dickens’ berühmtem Roman „Oliver Twist“. In Eisners Comic erzählt der auf seine Hinrichtung wartende Fagin einem gewissen Mr. Dickens seine Geschichte – die ganze, wahre, tragische Geschichte. Eisner gab das die Möglichkeit, Fagin eine Biografie anzudichten, die stellvertretend steht für das Schicksal jüdischer Einwanderer im England vor Beginn des viktorianischen Zeitalters. Doch natürlich vermischt sich seine Fagin-Richtigstellung/Darstellung irgendwann zwangsläufig mit Dickens’ bis heute präsentem Roman, ohne sich diesem je anzubiedern oder unterzuordnen – oder ihn jemals lediglich zu adaptieren.

Will Eisner, selbst Sohn jüdischer Einwanderer, kritisiert mit seinem Comic die Art und Weise, wie Dickens den Vorurteilen gegenüber dem ‚typischen Juden’ noch mehr Nahrung gab, was heute umso dramatischer ist, da sein Werk zum Kanon der Weltliteratur und unverzichtbaren Jugendliteratur gehört. Roman-Autor Cory Doctorow (Little Brother) bezeichnet „Ich bin Fagin“ deshalb sogar als ein „Meisterwerk der Literaturkritik in Form eines Comics“. Eisner saß jedoch auf keinem hohen Ross: Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er ebenfalls einen rassistischen Fehltritt hingelegt und in seinen „Spirit“-Comics das damals gebräuchliche Rassenklischee des ‚typischen Schwarzen’ bedient, was er noch viele Jahre später bereute.

„Ich bin Fagin“ spielt mit den Figuren und dem Schaffen von Dickens, ist im Ton und den Bildern aber ein echter Eisner, welcher der ‚echten, hohen Literatur’ in diesem Fall noch näher ist als sonst schon. Das Hardcover – mit einer Einleitung und einem Text-Anhang von Eisner, einem Vorwort von Comic-Bestseller-Autor Brian Michael Bendis (Avengers, Ultimate Spider-Man), einem Nachwort des Kulturwissenschaftlers und -Journalisten Jeet Heer sowie Anmerkungen von Übersetzer Axel Monte – macht sich im Buchladen und im heimischen Buchregal hervorragend neben den drei Bänden der „Will Eisner Bibliothek“.

Und vielleicht stehen die Werke von Charles Dickens ja zumindest im selben Raum oder unter demselben Dach.

Will Eisner: Ich bin Fagin. Egmont Graphic Novel, Köln 2015. 139 Seiten, 19,99 Euro