Kindheit im Kollektiv

In der autobiografischen Graphic Novel „Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein“ schildert der französische Comickünstler Emmanuel Lepage seine Kindheit in einer Landkommune.

Gewissermaßen handelt es sich bei Emmanuel Lepages Graphic Novel „Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein“ erneut um einen Reisebericht. Aber diesmal keine Reise im geografischen Sinne. Vielmehr erzählt der 300-seitige Band eine Reise in die Vergangenheit, in die Kindheit des Autors und Zeichners. Ein autobiographisches Werk also. Denn Lepage verbrachte die ersten Jahre in einer Gemeinschaft, bestehend aus sechs Familien, die auf einem riesigen Grundstück namens Gille Pesset auf dem Land nördlich von Rennes in der Bretagne lebten, inspiriert von der Bewegung namens „La Vie Nouvelle“ (Neues Leben). Diese v. a. in Frankreich ab 1947 entstandene unabhängige Volksbildungsbewegung sollte und soll die persönliche Entwicklung eines jeden einzelnen innerhalb der Gemeinschaft fördern, mit philosophischen, politischen und spirituellen Richtlinien. Ungleichheit und Ungerechtigkeit soll damit begegnet werden.

Klingt recht trocken – und ist es auch in Teilen des Bandes. Denn Lepage verbringt anfangs viel Zeit mit Erklärungen, berichtet ausgiebig über die Vorläufer und die Historie der Bewegung und schildert etliche philosophische Diskurse, die die Akteure miteinander führen. Das wirkt immer wieder wie ein Sachbuch, eine Dokumentation, und erzeugt dadurch auch einige Längen. Man muss dranbleiben, wobei man hier und da mit ganzseitigen, opulent gestalteten Natur-Panoramen belohnt wird, die Lepages Werke so sehr auszeichnen. Natürlich will Lepage in der naturgemäß sehr persönlichen Erzählung nun als Erwachsener wissen, warum man 1966 ein Leben in der Kommune anstrebte. Er will Hintergründe kennenlernen und damit die Vergangenheit und Herkunft der Bewohner, in erster Linie seiner Eltern Jean-Paul und Marie-Thérèse Lepage.

Dazu spricht Lepage mit allen Familien von damals, die mehr und manchmal weniger bereit sind, über die Jahre in Gille Pesset zu reden. Im Zentrum stehen dabei seine Eltern – sein Vater, der als uneheliches Kind eine schwierige Jugend hatte und lange brauchte, um seinen Platz im Leben zu finden, geprägt von christlichen Vereinigungen und Clubs. Und die Mutter, jetzt Malerin, die als Kind im Dezember 1948 mit ansehen musste, wie sich ihr großer Bruder Yves aus unbekannten Gründen das Leben nahm. Bis es dann zur Schilderung seiner Kindheit aus Sicht von Emmanuel kommt, erfahren wir, welche Rolle das Zweite Vatikanische Konzil für die Gemeinschaft spielte und welchen Einfluss das ebenfalls in der Bretagne liegende Kloster in Boquen mit dessen reformistischen und damit umstrittenen Prior Bernard Besret hatte, den Lepage ebenfalls interviewt.

1974 erfolgt dann der Bruch, die Kommune beginnt an sich selbst zu scheitern, begleitet von einer großen Aussprache, in der alle ihre völlig unterschiedlichen Erwartungen und Erfahrungen, positive wie negative, schildern. Und Emmanuel selbst wird geprägt von seiner anfänglichen Sehbehinderung (er schielt) und entdeckt früh über Hergés Tim, Lucky Luke und Jules Verne seinen Hang zur malenden und erzählenden Kunst. In Lepages Zeichnungen dominieren Braun- und Grautöne, wahlweise dezent oder kräftig eingesetzt. Dann folgen die ersten Erinnerungen aus der Kindheit, mit einem Male in kräftigen bunten Farben inszeniert sind. Es sind unbeschwerte Episoden. Die Kinder erkunden die weitläufige, wilde Umgebung, toben auf dem riesigen Grundstück herum. Diverse visuelle Kniffe, etwa Erinnerungen, die als Puzzleteile dargestellt sind, unterstreichen die erzählerische und zeichnerische Klasse Lepages. Somit ein nicht immer leichter, aber stets persönlicher Band mit Lepage selbst im Fokus der Geschichte.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Emmanuel Lepage: Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein • Aus dem Französischen von Anne Bergen • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 312 Seiten • Hardcover • 45,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.