Am Ende ist Krieg

Jean-Patrick Manchettes letzter Roman „Blutprinzessin“ ist ein schwieriger Text. Ein Jahr nach Manchettes Tod 1995 erschien eine Fassung, die ungefähr bei der Hälfte der Handlung abbricht und von hinterlassenen Arbeitsnotizen Manchettes von dessen Sohn Doug Headline ergänzt wurde. Aus Manchettes Notizen geht nur grob der geplante Verlauf der Story hervor, ob die erste, die „fertige“ Hälfte wirklich endgültig war, darüber kann man spekulieren. Zumal die Geschichte, die Manchette erzählt, seltsam verschachtelt und verknotet ist. Ein Hybrid aus Polit-Thriller und Abenteuerroman mit stark historischen Akzenten: Das Buch spielt nach dem 2. Weltkrieg bis 1957. Manchette hatte den Roman als Auftakt einer Reihe geplant, die „Les Gens du Mauvais Temps“ heißen sollte und das Prinzip des „sozialkritischen“ und politischen Néopolar ins Historische verlängert. Also im Grunde das, was seine jüngeren Kollegen wie Didier Daeninckx („Le der de ders“) schon angefangen hatten: Die Schmutzecken der französischen Geschichte via roman noir zu erforschen.

Manchette arbeitete in seinen Kriminalromanen schon immer mit dem typischen Dreh, dazu auch andere Formen der populären Kultur wie Western und Abenteuerroman fast surreal verfremdet zu nutzen. Die bisweilen etwas schmallippige Didaxe einer gewissen Strömung des direkt politisierten und politisierenden Polars war nicht unbedingt Manchettes Ding. Sarkasmus, Ironie und anscheinend unlogische Brüche in der Erzählhaltung gehören schon immer zu seinem Standardrepertoire.

Jean-Patrick Manchette: „Blutprinzessin“.
Aus dem Französischen von Christina Mansfeld. Distel Literaturverlag, Heilbronn 2001. 203 Seiten. 12,80 Euro (nur noch antiquarisch erhältlich)

Labyrinthische Handlung

So auch in „Blutprinzessin“, der Geschichte der Kriegsreporterin Ivory Pearl, die die Protektion eines schwulen britischen Freelance-Agenten genießt, der u. a. für die Franzosen arbeitet und eher linke Sympathien hat – im Comic expliziter als im Roman, wo er Samuel Farakhan heißt und eine etwas andere psychopolitische Ausrichtung hat als die Comic-Figur, die Bob Messenger heißt. Aber Pearl wird auch von verschiedenen Geheimdiensten instrumentalisiert. Im Hintergrund geht es um die Erdöl-Vorkommen in der Sahara, die sowohl die Franzosen als auch die Amerikaner im Schatten des Algerien-Krieges rivalisierend zu kontrollieren versuchen, während gleichzeitig der Ungarn-Aufstand niedergeschlagen wird und Dr. Castro in der Sierra Maestra anfängt, dem Batista-Regime Probleme zu machen.

In der kubanischen Sierra Maestra spielt auch der Abenteuer-Teil des Plots. Dort versucht der Waffenhändler Aaron Black (ein KZ-Überlebender und ein Haupt-Schurke des Spiels) die vermeintliche Erbin des Familienvermögens, ein junges Mädchen namens Alba, liquidieren zu lassen. Ein Unterfangen, das sieben Jahre zuvor in einem Blutbad gescheitert war. Alba, so soll die Welt denken, hat den ersten Anschlag überlebt und sich mit ihrem Beschützer, dem Matrosen Viktor Maurer in die Waldeinsamkeit zurückgezogen, wo die beiden auf unsere Heldin, die Fotografin Ivy Pearl treffen, die sich ebendort von einem Burn Out zu erholen versucht. Alle handelnden Personen sind manipuliert oder nicht die, die sie zu sein scheinen. Die Weltgeschichte und das Schicksal der Figuren hängen konstitutiv zusammen. Das ist recht kompliziert gestrickt, komplex, aber nicht verworren, die Paraphrase kann und soll aber nur die Oberfläche erfassen.

Aufgeräumter Comic

Umso erfreulicher, dass die Comic-Fassung fast noch klarer erzählt als die Vorlage (in Abzug gebracht deren Fragmentcharakter) und dass sie für den von Manchette kaum sinnvoll skizzierten Schluss sogar noch eine grandiose Lösung findet. Ivory Pearl landet 1957 im Indochina-Krieg, der 1954 ihrem großen Vorbild Robert Capa das Leben gekostet hat; jenem berühmten Kriegsfotographen Robert Capa, den sie tatsächlich in Paris in einer Bar getroffen hat, aber nicht weil ihr Mentor Messenger/Farakhan ihn ihr, wie als Köder versprochen, vorgestellt hätte, sondern aus eigener Kraft. Jener Capa, der eigentlich Endre Ernö Friedmann hieß und aus Ungarn kam, dem Land, in dem Messenger/Farakhan seinen Lover Lajos verliert, der für die CIA in der Endphase des Aufstandes aktiv war und von den Sowjets mit AK47s erschossen wird. Also jenem revolutionär robusten und weltweit eingesetzten Sturmgewehr, das der Waffenhändler Aaron Black bald an alle interessierten Parteien verhökern wird. Kein Konflikt ohne Kalaschnikow, sozusagen.

Jean-Patrick Manchette (Autor der Vorlage), Max Cabanes (Autor und Zeichner): „Blutprinzessin“.
Aus dem Farnzösischen von Resel Rebiersch. Schreiber & Leser, Hamburg 2011. 160 Seiten. 24,80 Euro

Feinmaschiger Wahnsinn

Aber Manchette pur entsteht erst durch noch mehr feinmaschigen Wahnsinn: Parallel zu der politischen Handlung gibt es eine nur am Rande, aber stringent mitlaufende Musikhandlung: Lajos und Ivy Pearl hören – im Gegensatz zum bildungsbürgerlichen Messenger – gerne Jazz (Ivy bringt Lajos Platten von „Art Blakey’s Jazz Messengers“ mit, die ironische Pointe von Max Cabanes ist, die Figur Farakhan genau so umzutaufen: in Messenger). Bei Manchette und auch bei Cabanes/Headland werden die Ereignisse ebenfalls parallel geschaltet mit dem Unfalltod des Trompeters Clifford Brown am 26. Juni 1956, mit dem Erscheinen von Miles Davis‘ „Birth of the Cool“ 1957 und seinen ersten Aufnahmen mit John Coltrane 1955. Manchette kommentiert lakonisch: „Später starben John Coltrane und Miles Davis, ebenso wie Clifford Brown und Oberst Nasser.“ Im Comic ruht sich, während der Erzähler dies notiert, Ivy Pearl im Garten einer luxuriösen Klinik aus, bevor sie wieder aufs Schlachtfeld zieht, eine Sterbliche auch sie.

Ganz am Ende des Comics hat Max Cabanes (bzw. der Co-Bearbeiter Doug Headline) einen rätselhaften Einwurf des Autors gestellt: „In jenem Sommer war ich dreizehn. Ich hielt es für möglich, ein Leben unberührt vom Gang der Geschichte zu verbringen. Später dachte ich anders. Aber erst nach fast vier Jahrzehnten, als mir jemand die Geschichte von Ivory Pearl und Alba Black erzählte.“ Dieser kleine Absatz (ich zitiere übrigens die wesentlich flüssigere Comic-Übersetzung von Resel Rebiersch, nicht die sehr knarzige der Romanausgabe von Christina Mansfeld) steht am Ende des elften Kapitels des Romans. Sperrig und unvermittelt, denn im Romantext gibt es keinen Autor, höchstens einen Erzähler. Der Umbau der Comic-Fassung, der die Passage zudem mit „Patrick Manchette, 1995“ sozusagen signiert, zieht somit noch eine Komplexionsebene ein.

Comic

Die Stärke der Comic-Fassung ist ihre vertrackte Polyvalenz: Einerseits hat man den berechtigten Eindruck, Max Cabanes habe den verschlungenen Plot der Vorlage durch seine klaren, filmisch strukturierten Bilder, Panels und Sequenzen geglättet: Farbverfremdungen für Rückblenden, zunehmende Verdüsterung des Lichtmilieus der Bilder, schnelle Schnitte, viel Dynamik bei reichlich robuster Action usw., wenig erklärender Text & Dialog, eher „autonome“ Bildsequenzen – also alles, was den Comic als Kunstwerk von der literarischen Vorlage emanzipiert.

Seite aus „Blutprinzessin“ (Schreiber & Leser)

Politik

Andererseits haben Cabanes und Headline mit ihren Mitteln – denen der Zeichnung und denen des Szenarios – den Kreislauf der Handlung sozusagen zugemacht, geschlossen – und Manchettes Vorlage damit politisch positioniert. Am Ende zieht eine an Körper und Geist geschundene Pearl in einen Kolonialkrieg, zu dessen Strippenzieher auch Bob Messenger und andere halb-positive Gestalten – Cheyenne, Simon Black, Montag – unserer Geschichte gehören. Jugend (das Waisenkind Negra, das als Alba Black auftritt, ist funktionalisiert und manipuliert, auch wenn sie das durchschauend und zum eigenen Vorteil nutzt), Außenseitertum (Messenger, der Homosexuelle) und Opfer (Aaron Black, der KZ-Überlebende) sind keine Kategorien, die moralisch per se zu irgendwas qualifizieren; zum politischen Kampf für eine bessere Welt schon gar nicht.

Selbst Viktor Maurer, der Kindsbeschützer steckt so tief in der Intrige wie Messenger auch, der sein Mündel Pearl zwar bedauernd, aber dennoch ins Feuer schickt. Helle Töne erlaubt sich der Comic nur in wenigen Momenten, wenn Natur abgebildet wird oder kurz moralischer Rigorismus aufscheint.

Kriminalliteratur und Ideologie

Manchette gilt als Ikone der Linken, seine Néopolars als politische Kriminalromane par excellence. Das ist richtig, up to a point. Natürlich hat Manchette immer wieder politische Themen behandelt, die politische Ökonomie hat sein Erzählen immer dominiert und natürlich war für ihn und in seiner Literatur klar, dass „die Systeme“ immer über Leichen gehen, notwendigerweise. Gleichzeitig waren alle seine Romane, auch „Nada“ und die nach langer schriftstellerischer Pause entstandene „Princesse du sang“, sehr sarkastische Texte, die Zweifel an allem und jedem äußerten und diesen Sarkasmus in die Lakonie des Erzählens selbst gelegt haben. Manchette bricht auf der Stilebene mit jeder „Eigentlichkeit“, alles ist ambigue, gebrochen, opak. Ein ideologischer, geschichtsphilosophischer, teleologischer (schon gar nicht im marxistischen Sinn) Vektor auf der Bedeutungsebene ist nirgends sichtbar. Sinnstiftung findet nicht statt. Seine Verachtung der Literatur-Literatur konterkariert Manchette immer mit der besonderen Raffinesse seiner eigenen, ironischen, ausgefuchsten und hochreflektierten Literarizität. Seine Liebe zu „populären“ Formen (die alles andere als wirklich populär sind) wie den Romanen von Donald Westlake und Ross Thomas, seine Affinität zu Comics, zum Jazz und zu Filmen der speziellen Art. Deswegen gestaltet Cabanes die „Blutprinzessin“ auch explizit cinegraphisch, im Gegensatz zu Tardis „grafischer“, abstrahierender Adaptions-Lösung.

Seite aus „Blutprinzessin“ (Schreiber & Leser)

All diese Dinge stehen natürlich auf den avantgardistischen Top-Plätzen des Jahrhunderts, sie sind eben kein oder kaum Lese- Hör- und Sehfutter für ein wirklich breites Publikum. Dass die Welt – egal, wie man sie jeweils wahrhaftig inszeniert – immer trotz aller Machinationen ein kontingentes, und trotz aller Verbesserungsideen immer ein machiavellistisches, letztlich letales Gebilde ist, an dem man nur die Freuden ludistischer Analyse plus Spott und Gelächter genießen kann, das ist keine Einsicht und kein Spaß-Gewinn, die massenkompatibel wären. Und Manchettes Sicht auf die Welt ebenso wenig.

Das Programm

„Blutprinzessin“ sollte der Anfang eines größeren Projektes werden, quer durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (soweit man weiß). Romanplots, die pragmatisch und realitätstüchtig, sardonisch und wissend um den hohen Unterhaltungs- und Erkenntniswert genau dieser Eigenschaften, eine chronique scandaleuse des 20. Jahrhunderts bilden sollten. Inszeniert als Polit-Thriller, eher anarchistisch als irgendwie diffus „links“, mit der Dominanz der künstlerischen Mittel über die „Aussage“.

Ähnlich also wie bei den Polit-Thrillern von Ross Thomas, den Manchette 1988 in Gijón kennenlernte – die beiden hatten sich viel zu sagen, vermutlich auch, weil sie viele Dinge ähnlich sahen. Und „Blutprinzessin“, mit den großen Thema Loyalität und Verrat, Ideal und Realität, Überleben und Gier, Macht und Tod, Liebe und Verlust, könnte so gesehen auch ein Ross-Thomas-Roman sein: Penibel genau in die historischen Zeitläufte gesetzt, diese für die Handlung nutzend (und nicht nur als Kulisse) und damit sehr kunstvoll erhellenden Scherz und Frohsinn treibend.

Ross Thomas und Jean-Patrick Manchette sind beide 1995 gestorben, ihr Programm bleibt aktueller denn je, und Comics wie „Blutprinzessin“ halten die Flamme am Brennen.

Diese Kritik erschien zuerst am 17.12.2011 auf CulturMag.

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.